Krieg in der Ukraine: Prognose 23

Das Gesamtbild ist entscheidend

Es wird Frühling

Das alles ist nötig zu wissen, bevor man die Lage an der Front einschätzen kann. Und noch weit mehr. Bevor man sich mit Details beschäftigt und darüber philosophiert, ob Bachmut nun fällt oder ob nun Panzer geliefert werden.

Jetzt beginnt der Frühling. Der Boden taut.
Trotz der Abnutzung russischer Truppen ist auch ein so genannter Stellungskrieg für die Ukraine nicht gut. Denn in Stellung sterben immer mehr Soldaten als in der Bewegung. Es wird im Interesse der Ukraine sein, Bewegung in die Sache zu bringen.

Für manche überraschend, aber in diesem Kontext völlig vorhersehbar, hat die Ukraine gestern eine Offensive im Raum Bachmut angekündigt. Was sich wiederum mit den Aussagen von Prigoschin deckt. Und damit, dass die westlichen Panzer und die auf sie ausgebildeten Soldaten nun langsam in die Ukraine kommen. Pünktlich zum Frühjahr, genau in dieser Situation.

Zudem meldet die Ukraine ein Nachlassen der Angriffe im Bereich Donezk. Dort, wo auch Bachmut liegt.
Sicher, man sollte alles, was von Kriegsparteien kommt, sehr skeptisch betrachten. Aber eigentlich wäre es im Interesse der Ukraine, die Angriffe als groß und übermächtig darzustellen. Weil sie ja Waffen haben wollen. Stattdessen sagt sie, die Angriffe lassen nach.

Einzelne Meldungen ergeben ein Gesamtbild

Alleine in Bachmut wurden in den vergangenen Tagen offenbar über 70 versuchte Angriffe abgewehrt.
Schon länger war es etabliert Wagner-Söldner nach vorne zu schicken, bis sie unter Feuer gerieten. Um dann in die Richtung zu schießen, aus der das Feuer kam. Ob sie lebend zurückkehren war egal. Aber selbst das scheint nachzulassen. Was sich widerum mit den Aussagen Progoschins und den Einschätzungen des britischen Intelligence trifft.
Die Angriffe auf Wuhledar scheinen ganz abzunehmen, nachdem die anrollenden Panzer wieder und wieder von der ukrainischen Artillerie abgeschossen wurden.

Russische T-55 rollen Richtung Westen.

Gestern meldete die Ukraine, dass die russischen Truppen sich aus der Region Nowa Kachowka zurückgezogen hätten. Das liegt im Südwesten des russisch besetzten Gebietes, nahe Cherson.
Die Tagesschau schreibt „beim Abmarsch hätten russische Soldaten Geräte, Wertsachen, Kleidung und Mobiltelefone aus nahe gelegenen Häusern gestohlen.“

Das würde ebenso zu einer Vorbereitung auf eine erwartete Gegenoffensive der Ukraine in Donezk passen, wie das gerade veröffentlichte Video. Auf dem ist zu sehen, wie ein ganzer Zug voll T-55 aus dem Osten Russlands Richtung Ukraine verlegt wird.
Die T-55 wurden ab 1958 produziert.

Halt’s Maul, Putin!

Eine der schillerndsten Figuren ist – selbst für russische Verhältnisse – Igor Girkin, Deckname Igor Strelkow. Er war als Geheimdienstoffizier an der Okkupation der Krim beteiligt und drang im April 2014 mit 52 Mann in den Donbass ein, um dort den Bürgerkrieg gegen die Ukraine zu organisieren. Er wurde inzwischen in Abwesenheit vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wegen des Abschusses der MH17 verurteilt.

„Halt’s Maul!“ Girkin in seinem Video.

Der Mann schillert deshalb, weil er sich ebenfalls gerne auf Telegram äußert. Und gerne auch gegen die russische Führung motzt. Die seiner Meinung nach alles falsch macht, was sie nur falsch machen kann.

Am Montag veröffentlichte er ein Video, in dem er sich sichtlich zornig gegen die Propaganda des Kremls wehrte. Vor allem gegen die Darstellung, moderne Waffen wie die Hyperschallrakete Kinschal würden den Krieg „leiten“ oder beeinflussen.
Man habe sie schon 2014 nicht gehabt und jetzt sei sie auch nur vier Mal eingesetzt worden.

Er empfahl dem Präsidenten Putin nicht nur ruhig zu sein, sondern sagte in Richtung Putin deutlich „Halt’s Maul“ (Заткнись; zatknis).
Das ist deshalb bemerkenswert, weil er als hochrangiger Geheimdienstler zu den Silowiki zählt, zu dem Umfeld aus dem Putin selber stammt und dem er mehr vertraut als den Bojaren und Oligarchen.

Politische Prognose

Es gibt viele Prognosen zum weiteren Verlauf des Krieges. Die allermeisten gehen davon aus, dass der Krieg noch lange dauern wird. So wie ich.
Das liegt meiner Meinung nach auf der Hand. Denn die Ukraine kämpft um ihr Überleben und die russische Führung um ihren Machterhalt.

Was mir beim Lesen vieler Prognosen aufgefallen ist, ist eine Trennlinie. Diejenigen Quellen, die weiter vom Militär entfernt sind und dem Krieg ablehnender gegenüberstehen, prognostizieren Verhandlungen und rechnen wie in einem Computerspiel technokratisch Daten gegeneinander auf. (Redakteure, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, Stiftung Wissenschaft und Politik, usw.) General Vad erzählt seit einem Jahr bereits das genaue Gegenteil von dem, was später eintrifft.
Militärische Fachleute beurteilen die Lage sehr anders. (Raimonds Graube, ehemaliger Kommandeur der lettischen Streitkräfte; General Milley; Cedric Leighton, ehem. Oberst der US-Luftstreitkräfte, US- und britische Nachrichtendienste, Institute for the Study of War, etc.)
Deren Prognose schließe ich mich an.

Russland wird versuchen ein Patt zu erreichen. Dazu ist es für die Putin-Administration zwingend notwendig, dass der Westen Russland als Verhandlungspartner auf Augenhöhe anerkennt. Was dieser nicht tun wird. Niemand wird Russland Zusagen machen oder Donbass und Krim als russisch anerkennen. Man hat aus 2014 gelernt. Die Zeit spielt für den Westen.
Das ist der Hintergrund für General Milleys Einschätzung, Russland habe bereits verloren. Putin hat sich fundamental verspekuliert.

Selbst wenn es zu Verhandlungen kommen sollte, gehören immer zwei dazu. Russland wird die Ukraine als Verhandlungspartner akzeptieren müssen. Wodurch es eine Souveränität der Ukraine indirekt eingesteht. Und selbst wenn das passiert, wird die Ukraine nicht dauerhaft akzeptieren, dass Krim und Donbass bei Russland verbleiben.
Sie wird vermutlich auch keinem Waffenstillstand zustimmen. Weil es für sie strategisch nachteilig wäre. Denn sie bekommt die westlichen Waffen auch im laufenden Betrieb. Russland würde jedoch jeden Waffenstillstand dazu nutzen, sich neu aufzustellen und Nachschub zu produzieren und heranzuführen.

Gerade erst hat die EU eine Produktion und Unterstützung von einer Millionen Schuss genehmigt, vor allem Artillerie Munition. Darüber hinaus schnüren die USA gerade ein weiteres Paket, das auch Munition für die erfolgreichen HIMARS und vermutlich auch Kampfpanzer M1 Abrams beinhalten wird.

Militärische Prognose

Wir werden nicht sehen, dass es einen großen Befreiungsschlag der Ukraine geben wird. Dafür fehlt ihr die Kraft. Aber ich halte einen Erfolg wie bei Charkiw oder wenigstens wie bei Cherson für mehr als denkbar.

Was wir sehen werden ist, dass Russland noch stärker versuchen wird, die zivile Infrastruktur der Ukraine zu zerstören. Weil ihnen keine andere Möglichkeit mehr bleibt Druck aufzubauen. Militärisch zeigt sich nicht nur, dass es seit Wochen und Monaten keine signifikanten Raumgewinne mehr erzielen kann. Aufgrund des geschilderten Hintergrundes ist sogar zu bezweifeln, dass es seine bisherigen Angriffe in der bisherigen Intensität durchhalten kann.

Dennoch kann sie weiterhin zivile Einrichtungen angreifen. Wobei auch dabei inzwischen deutlich weniger große Flugkörper wie die Kalibr Raketen zu Einsatz kommen. Die Produktion der iranischen Drohnen („Luftmopeds“) soll nun in Russland stattfinden. Das sind billige Mittel des Terrors.

Von Waffenlieferungen aus China geht derzeit niemand aus. Auch wenn die Bilder der demonstrativen Freundschaft des chinesischen Präsidenten Xi mit Putin um die Welt gingen. Aus Chinas Sicht befindet Russland sich in einem Zustand der Schwäche und es hat Vorteile, wenn das so bleibt. Wenn Russland sich isoliert und dadurch auf China angewiesen ist.
Dem widerspricht nicht, dass auch China nun zivile Drohnen und Bauteile an Russland liefert. Worauf vor allem die USA sicher bereits versuchen einzuwirken.

Wir werden sehen, dass Bewegung in den Krieg kommen wird. Ganz einfach, weil es – wie erklärt – dem Kriegshandwerk entspricht und Vorteile für die Ukraine hat. Ob dies tatsächlich nach Prigoschins Einschätzung 200.000 Soldaten werden, bleibt abzuwarten. Eher nicht, man sollte aber auch nicht verwundert sein.
Zudem kommen nun langsam die westlichen Waffen an. Die für genau eine solche schnelle, mobile Kriegsführung gemacht sind. Feuer und Bewegung.

Ein Ende des Krieges werden wir in diesem Jahr nicht sehen.
Es sei denn, irgendetwas passiert im inneren Zirkel des Kreml. Das kann man nie ausschließen.
Es würde mich jedoch nicht wundern, wenn die Ukraine erneut große Erfolge erzielen würde, was Putin im Inneren wie Äußeren enorm schwächen würde. In jedem Fall wird es für Russland nicht besser.
Das mit dem Blitzkrieg hat sich ja bereits erledigt, das russische Militär hat vor den Augen der Weltöffentlichkeit die Hosen runter gelassen.

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