Der Name „Ungesunder Menschenverstand“

Durch Küchenphilosophie zum Namen

Eine wohl wahre Geschichte, die mir vor Jahren ein Freund erzählte:
Eine Grundschullehrerin fragt ihre Klasse, woher der Wind kommt. Ein sich aufgeregt meldendes Mädchen antwortet weise nickend „Die Bäume machen den Wind.“ Die verdutzte Lehrerin fragt nach. Worauf die Kleine altklug erklärt: „Wenn die Bäume sich bewegen, dann kommt Wind.“

Das Mädchen hat Intelligenz bewiesen. Sie hat einen Zusammenhang (Korrelation) zwischen den sich bewegenden Bäumen und dem Wind beobachtet. Ein wissenschaftlicher Vorgang. Und ist dann zu einem fundamental falschen Ergebnis gekommen.
Ihr fehlten schlicht Informationen. Beispielsweise die Information, dass Bäume sich nicht von selber bewegen können.

Die Vorstellung des „gesunden Menschenverstandes“ hat eine Umformung durchlaufen.
Aristoteles beschrieb den „koine aisthesis“, den inneren Sinn. Die Fähigkeit, Wahrgenommenes zu einem Bild verknüpfen zu können. Das Ergebnis von Tastsinn, Geruchssinn, Geschmackssinn, etc.: Sieht es aus wie ein Apfel, fühlt es sich an wie ein Apfel, schmeckt es wie ein Apfel… dann ist es wohl ein Apfel. Es ist die Fähigkeit seine Umwelt begreifen zu können.
Im Lateinischen wurde dann der „sensus communis“ daraus. Den wir bis heute im englischen „common sense“ wiederfinden.

Viele beschäftigten sich damit, vor allem die so genannten deutschen Popularphilosophen. Bei Immanuel Kant (1724 – 1804) wurde aus dem Begriff etwas anderes.
Für ihn war der gesunde Menschenverstand eine moralische Frage. Die Fähigkeit, selber denken zu können. Durch Nachdenken zu Schlüssen zu kommen und so einen Erkenntnisgewinn zu haben.
Der Begriff verabschiedete sich immer weiter von dem, was wir heute als eher rational oder wissenschaftlich bezeichnen würden.

Es gab auch Gegenstimmen von eher rational orientierten Menschen. Schopenhauer, Nietzsche… Karl Marx bezeichnete den gesunden Menschenverstand als historische Dummheit und ein „Instrument der herrschenden Klasse“.

Die Vorstellung des Menschenverstandes nach Kant entspricht unserem heutigen Verständnis.
Für die meisten Menschen ist der gesunde Menschenverstand heute so etwas wie eine Intuition, die jeder Menschen hat und durch die jeder von ganz alleine zu den richtigen Schlüssen kommt.

Doch wer sich ein wenig mit Psychologie beschäftigt weiß, dass die Vorstellung absurd ist. Es gibt in keinen gesunden Menschenverstand, der uns naturgegeben Lösungen schenkt. Der Mensch begeht Logikfehler wo er nur kann. Kein Unternehmen könnte auch nur eine Kaffeemaschine verkaufen, die so fehlerhaft läuft wie das Modell Mensch.

Es gibt eine ganze Liste von kognitiven Verzerrungen, die zum Teil gut beforscht und beschrieben sind. Der Mensch ist ein zu tiefst durch Emotionen gesteuertes Wesen. Sein Betriebssystem ist das, was vor hunderttausend Jahren aufgespielt wurde, um sich in einer weit weniger komplexen Welt zurechtzufinden. Programme, die dafür geschrieben wurden, das Überleben der Gruppe zu sichern und sich fortzupflanzen. Nicht um nachts um halb drei im Souterrain des Elternhauses bei zwei Sixpacks über das Internet herauszufinden, warum das World Trade Center gesprengt worden sein muss.

Der Mensch ersetzt fehlende Informationen durch Meinung, beurteilt Fakten unterschiedlich, ignoriert sie nach Gutdünken und erfindet Dinge wie Gummihühner. Kamikaze-Piloten die Helme tragen und die Bezeichnung Doppelhaushälfte: mehr muss man über menschliche Logik nicht wissen.
Der Mensch ist gut beraten sich zu bilden. Um sich die Welt erklärlich zu halten. Denn ohne Informationen wird ihm das gleiche passieren, wie dem eingangs erwähnten Mädchen mit den windmachenden Bäumen. Er wird zu falschen Schlüssen kommen.

Es geht um mehr, als um die falsche Verwendung des Begriffes des gesunden Menschenverstandes. Es geht um die selbstüberschätzende Vorstellung, dass jeder durch eine angeborene Intuition alles verstehen und richtig beurteilen könne.
Diese Vorstellung wird in unserer Gesellschaft Kindern als Garant vermittelt, alles im Leben erreichen zu können. Und diese Vorstellung wird von vielen ausgenutzt. Bewusst, aus populistischen Motiven, oder weil sie sich ein derartiges Selbstbild erschaffen haben.

Eine beliebte rhetorische Finte ist es, selektive Fakten zu präsentieren und anschließend aufzufordern „Denkt mal selber darüber nach!“
Das hat etwas verständnisvoll Mitnehmendes, etwas Einladendes, es vermittelt den Eindruck, den so Angesprochenen für mindestens so intelligent zu halten, wie er sich selber. Das Gegenteil ist der Fall. Es ist die Einladung zu den gewünschten, meist falschen Schlüssen zu kommen. Weil Informationen fehlen.

Diese rhetorische Technik kann man auf die Spitze treiben. Indem man ganz nebenbei und implizit falsche Thesen einstreut, „alternative Fakten“ ins Spiel bringt oder einfach nur Fragen stellt, deren Antwort man mit der Frage eigentlich gibt. Ken Jebsen, Daniele Ganser und viel andere verdienen damit gutes Geld. Applaudiert von jenen Dummen, die sich mit einer Spende oder Eintrittskarte die selbstwirksamkeitsdienliche Illusion kaufen, mehr zu wissen als andere.

Während der Corona-Pandemie versuchten Menschen aus unterschiedlichen Motiven Maßnahmen schlecht zu machen. Beispielsweise mit dem Argument, dass Masken die Übertragung nicht verhindern können und auch Geimpfte sich infizieren können.
Diese Feststellungen sind richtig. Die Fehlinterpretation ergibt sich erst in den Köpfen. Nämlich die Annahme, dass die Masken im Sinne eines völligen Schutzes wirken sollen. Wer bisher dachte, eine Impfung würde gegen eine Infektion immunisieren, hat schlicht ein falsches Bild von Impfungen gehabt. Keine Impfung kann das; gegen keine Krankheit.
Epidemiologie hat viel mit Wahrscheinlichkeiten zu tun. Weiß jemand das aber nicht oder versteht es nicht, muss er zwangsläufig zu dem Schluss kommen, dass Impfungen keinen Sinn machen und Masken nur Unfug sind. Völlig egal, wie intelligent er ist.

In diesem Blog nehme ich nicht in Anspruch, die Wahrheit zu verkünden. Weil es die eine Wahrheit nicht gibt. Jeder macht sich seine eigene Wahrheit. (Radikaler Konstruktivismus)
Ich kann nur recherchieren und die Fakten nennen. Und erklären, zu welchem Schluss ich komme und warum. Ganz subjektiv, ganz ohne Ehrgeiz überzeugen zu müssen.

Es gibt keinen „gesunden Menschenverstand“.
Es gibt keine angeborene Intuition oder innere Weisheit, die uns die Welt wie von selbst erklären kann. Es gibt nur Fakten. Und umso mehr Fakten und Informationen wir haben, umso zuverlässiger werden unsere Entscheidungen. Umso genauer wird das Bild, das wir uns von der Welt machen. Von der Wirklichkeit, nicht der Wahrheit. Ich kann nur meine Perspektive anbieten, meine subjektive Wahrheit.
Und als wissenschaftlich orientierter Mensch ändert die sich auch gerne mal.

Dieser Blog ist das Gegenprogramm zum „gesunden Menschenverstand“. An Fakten orientiert, ergebnisoffen, unperfekt, bescheiden, selbstzweifelnd, sich prüfend, wandelbar.
Es ist der ungesunde Menschenverstand.

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