Krieg in der Ukraine: Prognose 23

Das Gesamtbild ist entscheidend

Die „Teilmobilmachung“

Es war vielleicht nicht blöde, aber es war sicher militärisch sinnfrei, dass Putin Ende September die „Teilmobilmachung“ verkündete. Was totsicher eine Reaktion auf den zweiten russischen Schock bei Charkiw war.

Zumal es diesen Begriff in der russischen Verfassung nicht gibt. Auch die Russen mobilisieren, oder mobilisieren nicht. Man ist auch nicht ein bisschen schwanger. Dabei handelte es sich augenscheinlich um ein Propaganda-Narrativ, um dem russischen Volk zu erklären, dass nun Wehrpflichtige eingezogen werden. Aber alles nicht so schlimm ist.

Das passierte aber scheinbar unsortiert. Scheinbar.
Eingezogen wurden vor allem Wehrpflichtige aus dem armen Osten bzw. Sibirien. Und gezogen wurden auch ältere Menschen. Seit 2014 wurden auf der Krim und im Donbass überraschend häufig Soldaten mit asiatischen Gesichtszügen gesichtet, was nicht der russischen Normalverteilung entspricht.
Eingezogen wurden auch Leute, die schon in der ersten Phase gedient hatten, ihren Wehrdienst von sechs Monaten abgeleistet hatten und nun erneut in die Ukraine sollten.

Ein laut Putin nicht-russischer Soldat 2014 auf der
Krim ohne Hoheitsabzeichen darf sich nicht identifizieren.

Im späten Oktober wurde ein Ende dieser Mobilmachung verkündet. Nach russischen Angaben befanden sich Anfang November bereits 50.000 der 300.000 Eingezogenen in der Ukraine. Was nichts anderes bedeutet, als das sie nach nur wenigen Wochen Ausbildung an die Front geworfen wurden.
Inzwischen ist auch sicher, dass die erklärte Mobilmachung seitdem ständig weitergeht. Inzwischen revoltieren Eingezogene, beklagen öffentlich fehlende Ausrüstung.

In der vergangenen Woche veröffentlichte der britische Nachrichtendienst seine Einschätzung, dass die Putin-Administration plane, das Alter von Wehrpflichtigen um drei Jahre auf 30 anzuheben. Was erneut Rekruten bescheren könnte. Zudem sollen inzwischen russische Rekruten in Belarus ausgebildet werden. Weil Russland die eh vernachlässigten Unteroffiziere ausgehen.

Die Söldner

Nur zur Erinnerung: In Russland leben 144 Millionen Menschen. Das sind weniger, als in Deutschland und Frankreich zusammen. Auch Russlands Ressourcen sind nicht unendlich. Russland ist nicht die Sowjetunion.

Nun wurde im vergangenen Jahr viel über die Tschetschenen berichtet, deren Diktatur sich mit Söldnern an dem Krieg beteiligt. Und die für ihre besondere Grausamkeit bekannt sind. Doch Tschetschenien hat 1,2 Millionen Einwohner, weniger als München. Selbst wenn sie auch Söldner aus anderen muslimischen Ländern einsetzen, was sie tun, dürfte auch die Ressource eher begrenzt sein.
Tatsächlich ist seit dem vergangenen Herbst in offiziellen Meldungen nichts mehr von den tschetschenischen Söldnern zu hören. Außer in Beschwerden auf Telegram gegen die russische Führung. Ein letztes Mal erregte der Diktator Kadyrow Aufsehen, als er im russischen Staatsfernsehen verkündete, man solle Ostdeutschland zurückerobern.

Die internationale Söldnergruppe Wagner war gut aufgestellt. Von ihrem Kommandeur, Neonazi und Gründer Dimitri Utkin (Kampfname Wagner), der SS-Kragenspiegel auf den Schlüsselbeinen tätowiert hat, ist bereits seit längerem nichts mehr zu hören.
Stattdessen ist immer öfter vom Organisator, Geldgeber und „Kommandeur“ Jewgeni Prigoschin zu hören, der sich auch gerne auf Telegram mitteilt.

Söldnerführer Prigoschin posiert für Ansprache.

Prigoschin hatte bereits neun Jahre wegen Raubüberfalls gesessen, als er über die Glücksspielszene in St. Petersburg kommend Putin angeblich bei der Bewirtung des französischen Präsidenten Jacques Chirac 2001 positiv aufgefallen war. Seitdem wird er „Putins Koch“ genannt.
Über mafiöse Strukturen war er ab 2012 an der Gründung der Gruppe Wagner beteiligt. Das Geld hatte er u.a. mit Medien-Holdings verdient. Bereits 2018 setzte das FBI eine Belohnung von einer viertel Millionen Dollar auf ihn aus, weil er in die Präsidentschaftswahl 2017 eingegriffen hatte. Trump gewann knapp.

Prigoschin hat mit seinen Söldnern zuvor viel Geld unter anderem in Libyen und Mali gemacht.
Allerdings hat Prigoschin es im Kometenschweif Putins nie in die offizielle Politik geschafft. Analysten gehen davon aus, dass man ihn dort nicht sehen will. Was der russischen Hierarchie entsprechen würde. Er gehört nicht zu den Oprischniki oder Silowiki, sondern den Oligarchen, denen Putins Führung nicht vertraut.

Wagnerianer

Und es wäre damit auch kohärent dazu, dass er seit Wochen wie Kadyrow öffentlich gegen die russische Führung motzt. Weil man üblicherweise davon ausgehen müsste, dass so jemand schnell eine Treppe herunterfällt oder beim Rauchen ausrutscht. Aber scheinbar sind seine Söldner zu wichtig für Russland. Zudem dürfte er durch eben diese gut geschützt sein. Er kann es sich offenbar erlauben.

Dass Kadyrow und Prigoschin öffentlich die Führung kritisieren, muss also in die Beurteilung des Krieges einfließen. Ebenso wie man dem Eindruck widersprechen muss, Prigoschin sei ein Anführer einer kleinen Söldnertruppe an der Front. Auch wenn er gerne mal mit Ausrüstung posiert. Er ist inzwischen 61.
Prigoschin ist ein Mafia-Boss und Milliardär, der sich sicher nicht ständig in der Ukraine aufhält. Geschweige denn an der Front. Und bis zu 50.000 Söldner unter sich hatte.
Hatte. Vergangenheit. Bachmut, da war etwas. Da wo westliche Nachrichtendienste die Gräber russischer Gefallener inzwischen in Hektar bemessen.

Kaum Nachschub, kaum Männer

Und eben weil Prigoschin nicht zu den Silowiki gehört, sind seine Gegenspieler General Gerassimov, derzeit Oberbefehlshaber der Truppen in der Ukraine, und General Sergei Schoigu, seit 2012 Verteidigungsminister Putins.
Jenem Schoigu hat er vor wenigen Tagen einen Brief geschrieben, den er auf seinem Telegram Kanal veröffentlicht hat. In dem er nicht nur erneut beklagt, dass seine Wagner Söldner nicht ausreichend Munition erhalten. Sondern dass er auch befürchtet, dass sie vom Nachschub abgeschnitten werden.

General Schoigu, Verteidigungsminister

Man muss sich das bewusst machen: Während Schlagzeilen hier seit Monaten von russischen Raumgewinnen berichten, fordert der Chef der dort eingesetzten Söldner Munition.
Anfang März hatte er unverhohlen veröffentlicht, wenn Wagner sich zurückziehe, breche die gesamte Front zusammen. Dann hätten die ukrainischen Truppen freie Fahrt bis zur Grenze von 2014.

Gestern veröffentlichte die gut informierte Agentur Bloomberg, dass der Kreml weiter versuche Prigoschin auf Abstand zu halten. Und der deshalb plane, seine Wagner Söldner nicht mehr aufzustocken und stattdessen wieder nach Afrika zu verlegen. Als Quelle werden Mitarbeiter des Kremls genannt.
In einem Interview, das Prigoschin gestern gab, schlug er zwar versöhnlichere Töne als in den vergangenen Wochen an. Doch er ging davon aus, dass die Ukraine derzeit 200.000 Mann in Reserve vorbereite. Und er zweifelte die Propaganda des Kremls an, dass es in der Ukraine Nazis gäbe.

Die kämpfenden Häftlinge

Ein weiteres Momentum kommt nun zum Tragen. Was in der Öffentlichkeit weitestgehend unbeachtet bleibt und vielleicht auch von der russischen Führung nicht zu Ende gedacht wurde.

Diese „Wagnerianer“ – wie sie inzwischen auch im Lagezentrum der Bundeswehr genannt werden – haben im Herbst Söldner in den russischen Gefängnissen angeworben. Videos von Prigoschin bei Reden wurden veröffentlicht: Drogen und Alkohol seien verboten, „sexuelle Gewohnheiten“ würden nicht kritisiert. Auf gut Deutsch Homosexualität und homosexuelle Vergewaltigungen, wie sie in russischen Gefängnissen üblich sind. Und in der homophoben russischen Gesellschaft ein Tabu darstellen.

Diese Praxis hat Russland inzwischen untersagt. Prigoschin bekommt Nachschubprobleme beim Menschenmaterial.
Den Häftlingen wurde die Amnestie nach sechs Monaten Dienst versprochen. Was gerade im russischen System viel wert ist. Diese sechs Monate enden nun langsam. Nachdem der britische Nachrichtendienst davon ausgeht, dass inzwischen die Hälfte dieser angeheuerten Häftlinge verstorben ist, bleiben trotzdem tausende, die in diesem Frühjahr erwarten als freie Menschen auf Russlands Straßen zurückzukehren. Das dürfte nicht nur ein Problem für den Nachschub an Söldnern für Wagner darstellen, sondern auch für die russische Zivilgesellschaft.

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