Das angebliche Massaker von Odessa

Russische Propaganda und die Chronologie

Foto: Yuriy Kvach (CC BY-SA 3.0)

Die russische Propaganda verzerrt gezielt Ursache und Wirkung und verdreht die chronologische Abfolge. Ein typisches Beispiel dafür sind die Unruhen in Odessa. Sie werden bis heute gerne als Beweis für die berechtigte Notwehr Russlands herangezogen. Doch ordnet man das Geschehen ein, ergibt sich ein völlig anderes Bild.

Gehen wir einen Schritt zurück.
Die Ukraine wurde regiert von dem pro-russischen Präsidenten Janukowytsch, der nach Schätzungen dem zutiefst korrupten Staat 500 Milliarden für sich und sein direktes Umfeld geklaut haben soll. Deshalb taucht die Ukraine bis heute im Korruptions-Index weit unten auf. Allerdings selbst da noch vor Russland.

Es gab eine große Arbeitslosigkeit, die Ukraine war am Ende. Es brodelte in der Bevölkerung auf allen Seiten.
Es hatte lange Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen mit der EU gegeben. Das sollte bereits 2012 unterzeichnet werden. Darauf reagierte Russland mit Importsperren und einer Propaganda gegen die EU in der Ukraine.

Nach den Verzögerungen waren die Vorbereitung zur Unterzeichnung im November 2013 von der Regierung Janukowytsch überraschend gestoppt worden. Vermutlich durch den Druck Russlands. Und dann ging alles ganz schnell.
Bereits in der Nacht versammelten sich 2000 protestierende am Majdan, dem großen Platz in Kyjiw. Es entstand das, was im Nachhinein als Euromaidan bezeichnet werden würde. In der Ukraine wird es bis heute als „Revolution der Würde“ bezeichnet.

Russland vs. Ukraine war gar kein Thema

Dabei ging es gar nicht wirklich um die Positionen zwischen ethnischen Ukrainern und Russen.
Ein angebliches Verbot der russischen Sprache, wie es bis heute behauptet wird, hat es nie gegeben. In ihrer Suche nach einer eigenstaatlichen Identität hatte die Ukraine lediglich beschlossen, dass Zeitungen und Schulbücher auf Ukrainisch anstatt auf Russisch gedruckt werden sollten. Ausländische Medien blieben weiterhin erlaubt, auch russische.

Das Gorschenin-Institut in Kyjiw führte Anfang Dezember eine Umfrage unter den Protestierenden durch. Der mit Abstand häufigste Grund für den Protest war bei Mehrfachnennung mit 55,9% die Forderung nach dem Rücktritt der Regierung. Nur 27,9% nannten die Ablehnung des EU-Abkommens als Grund, weitere 18% ein annehmbares Leben in der Ukraine. Russland spielte gar keine Rolle.

Am 18. Februar 2014 kam es in Kyjiw zu erneuten schweren Zusammenstößen. Doch auch hier nicht gegen Russen oder Ukrainer, sondern zwischen Protestierenden und der Polizei. Die Sicherheitskräfte der korrupten Regierung setzten dabei scharfe Waffen ein, 28 Menschen kamen ums Leben.
Das steigerte sich. Zwei Tage später sollen bei Zusammenstößen und dem Einsatz von Waffen 60 bis 70 Menschen getötet worden sein.

Danach kam es zum Umsturz. Das Parlament und Teile der Sicherheitskräfte schlossen sich den Protestierenden an.
Nur einen Tag später unterzeichnete Janukowytsch ein Abkommen und floh nach Russland. Am 23. Februar wurde vom Parlament ein Interims-Präsident eingesetzt.
Ein Bestreben sollte sein, verschiedene Änderungen der Verfassung durch Janukowytsch rückgängig zu machen.

Russland erkennt seine Chance

Dieses Chaos wurde nun von Seiten Russlands ausgenutzt.
Auf beiden Seiten gab es Nationalisten und Rechtsradikale. Die russischen sahen im Chaos der Revolution nun ihre Stunde gekommen.

Am 18. März, als Kiew noch tief in den Wirren der Neuorganisation gefangen war, annektierten russische Truppen die Krim. Nicht einmal einen Monat nach der Flucht Janukowytschs. Doch es waren schon seit Februar reguläre Truppen dort anwesend. Sie trugen keine Hoheitsabzeichen, modernste russische Uniformen („Ratnik“) und wurden als „grüne Männchen“ (зелені чоловічки) bezeichnet.
Im April erklärten russische Separatisten die „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk für unabhängig.
Der Konflikt verlagerte sich erst jetzt auf den zwischen pro-russischen und pro-ukrainischen Kräften.

Das ist wichtig zu verstehen: Dieser Konflikt war nicht der Kern dessen, worum es überhaupt ging. Er wurde nach dem Euromaidan dazu gemacht.
Es gab weder eine systematische Verfolgung oder Unterdrückung durch den sich neu formenden ukrainischen Staat. Noch gab es „Nazis“.

Zwar nahmen an den nationalen und internationalen Gesprächen auch Vertreter der rechtsradikalen ukrainischen Swoboda Partei teil. Doch bei den ersten regulären Neuwahlen des nun neuen ukrainischen Staates im Oktober 2014 errangen sie nicht einmal 5%. Durch Mandate kamen sie auf 6 von 450 Sitze im Parlament. Und seitdem immer weniger.
Das sollten wir uns vor Augen führen, während eine deutsche Partei mit dem Slogan „Unser Land zuerst!“ in Sachsen fast 30% hält.

Und vor diesem Hintergrund, der vielen sicher nicht bewusst ist, muss man die folgenden Ereignisse in Odessa beurteilen.

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