Das angebliche Massaker von Odessa

Russische Propaganda und die Chronologie

Marsch der Einheit der Ukraine

Am 2. Mai, also nach dem Euromaidan, der separatistischen Ausrufung der „Volksrepubliken“ und der Annexion der Krim durch Russland, war ein Fußballspiel zwischen Charkiw und Odessa geplant. Die Fans beider Seiten hatten sich zuvor auf einen gemeinsamen „Marsch der Einheit der Ukraine“ geeinigt. Darunter befanden sich auch ukrainische Nationalisten und Hooligans.
Insgesamt kamen etwa 2000 Menschen zusammen.

Bei einem Gewerkschaftsgebäude aus der Sowjetzeit hatte sich schon zuvor ein pro-russisches Zeltlager gebildet.
Vermutlich aus diesem Zeltlager fanden sich 300 pro-russische Aktivisten zusammen und wollten diesen Marsch von 2000 Menschen angreifen.

Die ukrainische Polizei versuchte diese Aktivisten einzukesseln, was jedoch nicht gelang. Dadurch kam es zu einer mehrere Stunden andauernden Straßenschlacht, bei der auch Schüsse fielen.
Der erste Tote soll der Ukrainer Andrij Birjukow gewesen sein.

Der ukrainische Mob war aufgeheizt und wollte das Zeltlager am Gewerkschaftshaus angreifen. Die Aktivisten verschanzten sich daraufhin in dem öffentlichen Gebäude.
Es handelte sich also ebenso wenig um Gewerkschafter, wie inzwischen häufig behauptet wird, wie die Ukraine angeblich wahllos alle Oppositionsparteien verboten hat.

Beide Seite schleuderten Brandsätze.
Daraufhin fing das Gewerkschaftshaus Feuer, um 19:43 Uhr wurde die Feuerwehr benachrichtigt.

Bei dem Feuer starben mindestens 42 pro-russische Aktivisten, zehn davon bei dem Versuch aus einem Fenster zu springen.
Es kam zu dramatischen Szenen, in denen Fliehende von dem pro-ukrainischen Mob verfolgt wurden.

Das Nachspiel

Etwa 100 der Teilnehmenden wurden festgenommen oder in Schutzhaft genommen, hauptsächlich Vertreter der pro-russischen Seite.
Davon wurden die meisten (67) jedoch wenige Tage später wieder freigelassen.

Der Gouverneur der Region (Oblast) Odessa entschuldigte den pro-ukrainischen Mob damit, „dass deren Aktionen gegen keine Gesetze verstoßen hätten, weil man »bewaffnete Terroristen« hätte bekämpfen müssen“. Was nicht so absurd ist, denn zu dem Zeitpunkt befand man sich de facto bereits in einem Bürgerkrieg bzw. in kriegerischen Auseinandersetzungen mit Russland.

Benjamin Bidder schrieb am 04.11.2015 im Spiegel, man habe einen pro-russischen Mob zwei Tage später mit einem LKW eine Polizeistation aufbrechen und dutzende pro-russische Gefangene „befreien lassen“. Die anrückende Sonderpolizei sei nicht eingeschritten.
Als man den (offensichtlich pro-russischen) zuständigen Vizepolizeichef Dmitrij Futschedschi Mitte Mai endlich dazu habe befragen wollen, hätte der sich bereits abgesetzt.
Es bleibt die Frage, wie ein Trupp einer „Sonderpolizei“ einen bewaffneten Mob aufhalten kann. Wenn sie es denn wollte.

Die Ukraine hatte mehrere Untersuchungsverfahren eingeleitet. Später kritisierte der Europarat jedoch, dass diese nicht mit dem nötigen Ehrgeiz verfolgt wurden. Und das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte bemängelte zweimal einseitige Ermittlungen.

Mit der Gesamtsituation unzufrieden

Um sich die Situation beurteilen zu können – soweit das überhaupt möglich ist – muss man nicht nur die Vorgeschichte kennen. Und die Vorgänge wenigstens halbwegs kennen.
Man muss sich auch vergegenwärtigen, welches Chaos im Mai 2014 nach wie vor herrschte.
Das dürfte nicht viel geordneter als das Paris von 1789 ausgesehen haben.
Verständlich, dass Viele Probleme damit haben russisch und pro-russisch sowie ukrainisch und pro-ukrainisch auseinanderzuhalten.

Die Regierung befand sich in der Neugründung. Der Staat wurde durch eine neue Verfassung umgekrempelt. Bewaffnete Aktivisten campierten vor einem öffentlichen Gebäude. In den Sicherheitskräften waren noch diejenigen in Position und Verantwortung, die zuvor für die hyperkorrupte Führung von Janukowytsch gekämpft hatten. Und solche, die pro-ukrainisch eingestellt waren.
Es gab nach wie vor Straßenbarrikaden.

Sicherlich ein Chaos, das für deutsche Verhältnisse nach fast 80 Jahren Frieden kaum zu verstehen sein dürfte. Wir haben ja schon Probleme die chinesische Korruption und die russische Kleptokratie zu verstehen.

Die russische Propaganda

Die russische Propaganda nutzte diese Vorkommnisse sofort entsprechend aus.
Der Kern dieser Argumente ist bis heute gleich. Es wird so getan, als wenn es eine ukrainische Stringenz von vor 2013 bis nach 2014 gegeben hätte. Als wenn nichts passiert sei.

Alle Argumente gründen sich auf dieses Narrativ, diese Negierung der Revolution.
Vor allem begründen sie die Erzählung einer Notwehr. Für die es ohne die Intervention Russlands aber gar keinen Anlass gegeben hätte.
Hätte Russland da die Füße still gehalten, hätte man später über vieles verhandeln können. Beispielsweise über die Neutralität einer souveränen Ukraine, die inzwischen mehrfach angeboten wurde. Doch das war ganz offensichtlich nicht das Ziel.

Schon im Monat vor den Ausschreitungen hatten nationalistische russische Separatisten die „Volksrepubliken“ Lugansk und Donezk ausgerufen, also im bis heute umkämpften Donbass. Angeführt unter anderem von russischen Neonazis wie Pawlo Hubarjew.
Spätestens im April war der Agent des russischen Inlandsgeheimdienstes Igor Girkin unter dem Decknamen „Igor Strelkow“ (Schütze) dort aktiv, nachdem er auch auf der Krim in Aktion getreten war. Nach eigener Aussage, nicht nach dem was andere behaupten.

Und bis mindestens 2021 hat Russland dies alles offiziell bestritten. So wie es die Vorbereitung eines Kriegs bestritten hat, bis die Truppen die Grenze überschritten haben.

Ursache und Folge

Das ist der größte Taschenspielertrick der russischen Propaganda. Der eigentlich sehr leicht und offensichtlich zu widerlegen ist. Durch die zeitliche Abfolge. Alleine, die Mühe macht sich kaum jemand.

Es hat keine systematische, organisierte Verfolgung von Russen, russischen Minderheiten oder russischen Ethnien durch die Ukraine gegeben. Denn die Ukraine wurde bis 2014 pro-russische regiert. Und war in den entscheidenden Monaten viel zu sehr mit sich selber beschäftigt.

Ein Mob in Odessa nach der Intervention Russlands ist ebenso wenig ein Beweis für Nothilfe wie ein paar nationalsozialistische Flaggen einer ukrainischen Miliz vor 2015 ein Beweis für einen Nazi-Staat sind.

Wenn mir heute jemand erzählt, die Ukraine hätte Russen verfolgt oder die Bevölkerung im Donbass bombardiert, frage ich einfach nur, warum sie das getan hat. Denn eine Regierung fängt ja nicht aus Jux und Tollerei an seine Bevölkerung zu bombardieren. In dem Moment muss derjenige sich zwangsläufig damit auseinandersetzen, wie der zeitliche Ablauf war.
Es ist geradezu lächerlich, wie Menschen ein überlegenes „Aha“ und „endlich sagt jemand die Wahrheit“ kommentieren, wenn jemand offen ausspricht, dass der Krieg seit 2014 andauert.

Die russlandfeindliche Stimmung und Politik hat wenig bis nichts mit der Revolution namens Euromaidan zu tun. Geschweige dem, was davor war.
Es gab zu keinem Zeitpunkt eine Notwehrsituation für Russland.

Die russlandfeindliche Haltung ist nicht Ursache für den Krieg, sondern dessen Folge.

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