Plötzlich und unerwartet: Die Tode russischer Eliten

Putins Todeslisten oder Mafia?

Der Konflikt innerhalb der Eliten

Es gibt zwei Szenarien, die von Analysten derzeit für möglich gehalten werden. Um das einordnen zu können, muss man jedoch einige russische Perspektiven zumindest ansatzweise verstehen.

Die russische Führung steht seit Iwan dem Schrecklichen in einem Spannungsverhältnis mit dem niederen Adel, den so genannten Bojaren. Es ist bekannt, dass Putin nur seinem direkten Umfeld und den durch ihn selber an die Macht gebrachten Seilschaften aus Militär und Nachrichtendiensten vertraut. Diese nennt man Silowiki.

Aus diesem Spannungsverhältnis ergibt sich, dass nach russischem Verständnis die Führung unfehlbar ist. Und wenn etwas schiefläuft, die niederen Bojaren dafür verantwortlich sind. Weil sie den Willen der Führung nicht korrekt umgesetzt haben.

In den 90ern ist Putin selber durch diese Bojaren groß geworden. Viele Industrielle sind mit zum Teil mafiösen Strukturen zu sehr viel Reichtum gekommen.
Putin selber verdient gut. Hat aber ein Vermögen von vielen Milliarden angehäuft, das er mit legalen Mitteln nicht hätte verdienen können. Da sein Vermögen jedoch anonym und getarnt ist, kann man nur schätzen. Der US-amerikanische Hedgefonds-Manager und Autor Bill Browder geht von 200 Milliarden aus, was Putin zu einem der reichsten Menschen der Welt machen würde.

Zwischen den Oligarchen und der Führung besteht also eher eine Beziehung von gegenseitigem Nutzen als wirkliche Freundschaft. Was man auch immer wieder an Schauprozessen ausmachen kann, die den Top-Managern gemacht werden.

Die Korruption in der Kleptokratie

Zudem gibt es kulturbedingt ein stillschweigendes Einverständnis, dass Korruption bis zu einem gewissen Grad duldet. Wieviel jemand stehlen darf ist jedoch von seinem Rang innerhalb der Pyramide abhängig.
Deshalb bezeichnet man das System auch als Kleptokratie.

Nun hat Putin in den vergangenen 20 Jahren aber nicht nur den Silowiki zur Macht verholfen. Sondern auch vielen Oligarchen. Indem er viele Konzerne wieder verstaatlicht hat und sie dort in hohe Posten gehoben wurden.
Das erklärt auch, warum Militärs dann beispielsweise „Sonderbeauftragte“ für Unternehmen sind oder bei Gazprom und Aeroflot im Management sitzen.

Und dort wurde wohl alles geklaut, was nicht niet- und nagelfest ist.
Beispielsweise musste 2020 eine Ilyushin Il-80 gewartet werden, eine der von den Medien dramatisch „Weltuntergangsflugzeuge“ genannten Maschinen. Dabei wurde so viel Elektronik geklaut, dass das Flugzeug nicht mehr flugfähig ist, anstatt repariert zu sein. Und da keine Elektriker mal eben einen Monitor da rausschleppen können, geht man davon aus, dass die Maschine gezielt und von hoher Stelle koordiniert ausgeschlachtet wurde.

Putin war nicht informiert

Und das macht es sicher auch erklärlich, wovon viele Analysten bereits in der ersten Phase des Überfalls ausgegangen sind: Dass Putin gar nicht über den tatsächlichen Zustand der Streitkräfte unterrichtet war.

Russische LKW mit sowjetischen Reifen in der Ukraine

Denn nicht nur, dass man den Soldaten erzählt hatte, sie würden in Kiew als Befreier mit Blumen empfangen werden. Es zeigte sich, dass LKW auf alten Reifen aus Sowjet-Produktion liegenblieben, Essensrationen seit Jahren abgelaufen waren und die Soldaten Supermärkte plündern mussten, um an Toilettenpapier und Instant-Kaffee zu kommen.

Bereits nach wenigen Wochen war auf Videos zu sehen, wie Helikopter im Flug nach oben zogen und Raketen abfeuerten. Weil sie keine Präzisionsmunition mehr hatten und so schossen wie mit Feldhaubitzen.
Von den Hyperschallraketen und hochmodernen Panzern abgesehen, von denen bekannt war, dass sie – wenn überhaupt – nur in geringer Stückzahl vorhanden waren.

Wenn das Geld geklaut wurde, ist naheliegend, dass die Verantwortlichen nach oben gemeldet haben „Alles in Ordnung“.

Die zwei Szenarien

Daraus ergeben sich nun die zwei anzunehmenden Szenarien.

Das erste Szenario ist, dass der Kreml unter denen aufräumt und sich rächt, die sich über Jahre hinweg an diesen Konzernen und öffentlichen Geldern bereichert haben. Gelder, die jetzt fehlen.
Das zweite Szenario ist, dass diejenigen, die sich bereichert haben, versuchen Spuren zu verwischen.

Für letzteres sprechen Todesfälle wie der von Marina Yankina, die offenbar der Frage nachgegangen ist, wo das Geld für die Instandhaltung abgeblieben ist. Oder das Ableben von Woronow und Peschorin, die in die Erschließung von Energien in der Arktis involviert waren.

Für das erste Szenario sprechen die vielen Todesfälle unter Verantwortlichen und vor allem ehemaligen Verantwortlichen im Energiesektor.
Spannend sind die Verbindungen zwischen Rüstungskonzernen (Drohnen, Panzern) und der aktuellen Lage in der Ukraine allemal. Doch auch der Wanderunfall eines 37-jährigen Managers eines Ski-Ressorts, in das zu den olympischen Spielen 2014 Milliarden staatliche Gelder gepumpt wurden, ist bemerkenswert.

Auch wenn in einigen wenigen Fällen ein Selbstmord tatsächlich naheliegend erscheint, ergibt sich doch ein Gesamtbild.

Wir wollten es nicht wissen

Dass die russische Führung tief mit mafiösen und korrupten Strukturen unauflösbar vernetzt ist, war Analysten schon länger klar. Und spätestens an dieser Stelle muss man sich eingestehen, dass Unternehmen wie BASF und Politiker wie Merkel mit genau diesem Netz Deals gemacht haben.
Die meisten von uns hatten dieses System Putin im Tank und in der Heizung. Und es war uns egal, solange wir die Augen davor verschließen konnten. Wir wollten es nicht wissen, es war weit weg.
Verantwortungsdiffusion: andere müssen sich darum kümmern.

Die Bilder aus der Ukraine öffnen unsere Augen schmerzhaft. Während andere sie noch entschlossener zukneifen.
Die Bilder der zerlumpten Rekruten ohne vernünftige Ausrüstung, die Jahrzehnte alten Panzer und die geplatzten Reifen entstammen genau dem System, bei dem wir so gerne preiswert Energie gekauft haben.
Das jahrelange Wegsehen hat es überhaupt möglich gemacht, die russische Kriegskasse zu füllen. Man muss fast dankbar sein, dass einige über Jahre hinweg ihre Finger darin hatten.

Und nun frisst die Kleptokratie ihre Kinder.

Aktuelles