Die ukrainische Gegenoffensive erklärt

Falsche Erwartungshaltungen

1. Verunsicherung

Derzeit gehen die lokalen Angriffe Russlands merklich zurück. Das, was wir aus vielen Videos kennen; die Infanterie-Kämpfe am Boden. Das liegt vor allem daran, dass Russland mehr und mehr die Munition für ihre Artillerie ausgeht. Die russische Artillerie ist nicht sonderlich präzise, bewegliche Ziele kann sie eigentlich nicht treffen. Sie muss wie mit einer großen Fliegenklatsche draufhauen.

Doch nun werden entlang der gesamten Front einzelne Angriffe der Ukraine gemeldet. Vielleicht sogar mehr als von Russland. Dadurch verunsichert man die russischen Kräfte. Und man bindet Ressourcen. Denn wer ständig vorne kämpft, hat weniger Zeit zu gucken, was dahinter eigentlich passiert.
Immer mehr Berichte tauchen auf, dass die russischen Soldaten immer nervöser werden.

2. Unten halten (Fixing)

„Fixing“ bedeutet nicht nur „reparieren“, sondern auch etwas festmachen. Militärisch spricht man eher von „unten halten“, salopp könnte man auch „festnageln“ sagen.

Ein Infanterist kommt an die Front. Dort baut er irgendwo sein Zelt auf oder kommt in einen Unterstand, wie man ihn auch aus Filmen über den Ersten Weltkrieg kennt. Auch verlassene Gebäude können als Unterschlupf dienen. Das ist der Verfügungsraum, wo er sich zur Verfügung hält. (Rekruten werden gerne verarscht, indem man sie den berühmten „Schlüssel für den Verfügungsraum“ holen lässt.)
Erst von da aus geht er an die eigentliche Front. Oder er wird gefahren. Das sind die Bilder der winkenden Soldaten, die auf Panzern sitzen und irgendwo hinfahren. Meist auf der Rückfahrt, auf der Hinfahrt lächeln die wenigsten.

Wird die Einheit des Infanteristen verlegt, muss er sein Geraffel zusammenpacken. Er muss seinen Schlafsack einrollen, seinen Rucksack packen, schwerere Waffen wie MG oder Panzerfäuste müssen aufgeteilt werden und so weiter. Kein LKW fährt direkt an die Front.

Wird der „Frontabschnitt“ angegriffen, ist das nahezu unmöglich. Und umso unmöglicher, um so größer die Einheit ist, die verlegt werden soll. Denn es kommt ja immer mehr Geraffel hinzu. Die Führung hat mobile Stände, Panzer, LKW, Munition, alles muss mitgenommen werden.

So lange die Einheit aber unter Feuer liegt, „unten gehalten wird“ („Köpfe runter“), kann sie nicht einfach aufstehen, weggehen und einpacken. Im Krieg gibt es kein „nicht in den Rücken schießen“.

Durch viele kleine Angriffe erreicht die Ukraine also, dass die russischen Einheiten schwer verlegt werden können. Sie können sich nicht sammeln, nicht neu organisieren und sie können nicht dahin, wo sie vielleicht die Gegenoffensive erwarten. Sie sind „festgenagelt“ („fixed“).

3. Aufklärung

Es ist bekannt, dass die Russen über den Winter Verteidigungssysteme aufgebaut haben. Beispielsweise Schützengräben und Straßensperren.
Im nördlichen Teil der Krim, der Verbindung zum Festland, gibt es sogar drei bzw. vier solcher Systeme hintereinander. Im Nordosten, an der Grenze zum im November zurückeroberten Gebiet Charkiw, sind sie ebenfalls stark ausgebaut. Man kann sie sogar auf Satellitenaufnahmen sehen. Eigentlich alte, einfache Maßnahmen, die aber durchaus wirkungsvoll sein können.

Nun will man aber natürlich genau wissen, was davor bzw. dahinter passiert. Wo beispielsweise die Munitionsdepots sind, wo die Versorgungswege laufen und so weiter.
Am Beispiel der Krim also all das, was zwischen der Krim und der jetzigen Front abläuft. Was bis zu 300km Entfernung sind. Denn man kann davon ausgehen, dass das nächste operative Ziel sein wird, Russland hinter diese Verteidigungslinien zurückzudrängen. Vermutlich ist auch das damit gemeint, wenn Selenskyj sinngemäß sagt „Nach der Offensive wird der Westen uns Flugzeuge geben“. Denn da kommen sie vielleicht mit bisherigen Mitteln nicht weiter. Für so etwas braucht man Jagdbomber, wie die MiG-29, die nun von Polen geliefert werden. Die sind genau für so etwas gebaut.

Im Übrigen werden derzeit 10 ukrainische Piloten in den USA auf der A-10 ausgebildet, dem bekanntesten Erdkampfflugzeug. Im Grunde eine fliegende Gatling, um die man ein Flugzeug herum gebaut hat. Sie wird „Thunderbold“ (Donnergrollen) genannt, aber nicht wegen des Fluggeräuschs. Sie hört sich eher an wie ein Föhn. Sondern wegen des Geräuschs, wenn die Gatling mit 3900 Schuss pro Minute (65 pro Sekunde) feuert.

Logistik stören

Als vierter Punkt ist noch zu erwähnen, dass man auch versucht die Logistik und den Nachschub zu stören.
Das gehört eigentlich nicht explizit in diese „Shaping Operations“, da man das ja ständig versucht.
Doch dieser Krieg ist in seiner Art auch wegen den technischen Möglichkeiten neu. Noch nie wurden Drohnen in einem solchen Umfang eingesetzt. Das ist, als würde man fünfzig Handgranaten 1000 km weit werfen können. Gezielt auf ein Gebäude.

Und dafür sind natürlich Tanklager und Munitionsdepot (im Verfügungsraum) ein gefundenes Fressen. Denn das bedeutet auch, dass man durch die vergleichsweise sehr preiswerten Drohnen den Nachschub weit im Hinterland angreifen kann. Und zwar unmittelbar und sehr gezielt in dem Bereich, auf den man später wirken will. (Soldatensprech für „angreifen“.)

Zuvor musste man das durch Artillerie, die natürlich eine weit geringere Reichweite hatte, oder durch Flugzeuge und Raketen, was viel viel teurer war. Deshalb wird dieser Krieg bereits an der Führungsakademie der Bundeswehr und in Westpoint sehr genau beobachtet, weil er strategisch sehr viel neues aufzeigt, über das vor allem die Russen vorher anscheinend nicht nachgedacht haben. Drohnen, die man bei Alibaba online bestellen kann. Es ist fast witzig, was da alles gerade abgeht. Es bleibt abzuwarten, was das für den Terrorismus der nächsten Jahre bedeuten wird. Der ein oder andere Drohnen-Operator wird nach dem Krieg arbeitslos sein.

Gegenoffensive ist Tagesgeschäft

Was wir derzeit sehen, sind solche Shaping Operations, welche die Gegenoffensive vorbereiten. Alleine seit letzter Woche sind drei große Tanklager und eine Raffinerie in Rauch aufgegangen. Und die tägliche Übersicht auf den Lageplänen der OSINT zeigen, dass die Angriffe der Russen stark zurückgehen, während kleine Angriffe der Ukrainer zunehmen.

Doch wer nun mutmaßt wo, wann und wie die Gegenoffensive wirklich beginnt, ist wenig glaubwürdig. Egal wie viel Ahnung derjenige behauptet zu haben. Weil das von drei wichtigen Faktoren abhängt, die er nicht kennen kann:

  • Was sagt die aktuelle und zeitnahe Aufklärung? Wo sind die Verteidiger schwach?
  • Wo laufen die Versorgungslinien? Gibt es Bereiche, die sehr schlecht versorgt sind oder wo die Versorgung leicht abgeschnitten werden kann?
  • Welche Kräfte habe ich selber zur Verfügung? Habe ich die Kapazitäten der spezialisierten Pioniere, größere Truppenverbände über einen Fluss überzusetzen? Habe ich genug Panzer, um befestigte Stellungen zu überrennen?

Prognose: Prognosen unseriös

Als Beispiel haben ukrainische Truppen inzwischen den Dnepr bei Cherson überschritten und einen Brückenkopf bei dem gegenüber gelegenen Städtchen Oleschky etabliert. So etwas ist riskant und kostet Kapazitäten. Vor allem um eine solche Stellung halten zu können. Das werden die Ukrainer erst gemacht haben, nachdem sie die Lage auf der anderen Seite des Flusses genau geprüft haben.
Sie haben sogar Überwachungskameras aus hunderten Metern Entfernung heruntergeholt, bevor es los ging.

In einer kurzen Meldung habe ich darüber berichtet und geschrieben, dass so etwas nur zur Ablenkung eigentlich zu aufwändig ist. Denn dazu braucht man ja auch spezialisierte Einheiten, die nicht an den Bäumen wachsen. (Flusspioniere „FluPis“, Boote, eventuell Marineinfanterie, etc.)
Aber ob darüber tatsächlich dann die Gegenoffensive ablaufen wird, kann ich nicht sagen. Genutzt wird es später sicher einmal. Die Frage ist wann und wozu.

Naheliegender wäre von Norden, aus Richtung der Stadt Saporischschja kommend, Richtung Süden vorzustoßen. Die Stadt Melitopol, die bereits in der ersten Phase des Überfalls eingenommen wurde, liegt am so genannten Molotschna-Liman (Ästuar). Dieses „Flussdelta“ zieht sich über etwa 60 km bis zum Asowschen Meer und ist für größere Truppen quasi unüberwindbar.
Die Ukraine müsste an der Stelle nur etwa 100 km überwinden. Dadurch würde das russisch besetzte Gebiet gespalten, die Krim könnte nur noch per Schiff oder über die Krim-Brücke versorgt werden.

Das ist jedoch aus genannten Gründen keine Prognose. Es ist lediglich eine Einschätzung, was die für die Ukraine beste Lösung wäre. Ob das umgesetzt werden kann, ist eine andere Frage.

Kommentatoren, die nun einen riesigen Gegenschlag erwarten, ein „Feuerwerk“ am 9. Mai vorhersagen (es müsste eh einen Tag davor passieren), oder glauben genau zu wissen, was passiert, wollen sich einfach nur interessant machen.
Den Plan kennen nicht einmal die NATO oder Nachrichtendienste. Es wird vermutlich nicht einmal den einen großen Plan geben. Das ist eine falsche Vorstellung.

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