Ukraine: Warum es keine Verhandlungen gibt

Eine Analyse

Die russische Elite

Eine solche Bedrohung könnte vielleicht dazu führen, dass jemand den roten Knopf drückt. Doch das halte ich für eher unwahrscheinlich. Denn zum Abfeuern der russischen Atomraketen ist das Einverständnis von mindestens drei Personen nötig. Und den Kommandeuren vor Ort.

Kommt es zu einem inneren Aufstand, sind die Leute eher mit sich selbst beschäftigt.
Um das zu erklären, müsste ich ein halbes Buch zum Verständnis der russischen Führung, Diktatur und Kleptokratie schreiben.
Es gibt drei, zum Teil historisch-kulturell begründete, Gruppen innerhalb des Putinismus. Das gibt vielleicht einen Eindruck. Grob vereinfacht!

  • Die Bojaren waren eigentlich die unteren Adeligen. Iwan der schreckliche hat ein gespaltenes Verhältnis der Führung zu den Bojaren etabliert. Daher speist sich noch das heutige Verständnis, dass der Führer (Zar, Generalsekretär, Putin) niemals schuld ist, sondern dass die Bojaren seinen unfehlbaren Willen nicht richtig umgesetzt haben. Deshalb scheißt Putin auch gerne mal im Fernsehen Minister oder Verwalter zusammen. Die Bojaren stehen traditionell in einem Spannungsverhältnis zur Führung.
  • Die Oprischniki sind so etwas wie der innere Zirkel. Ursprünglich waren sie so etwas wie eine Geheimpolizei. Unter Putin sind das die so genannten Silowiki: Seilschaften aus Geheimdiensten und Militär, die der KGB-Mann Putin an die Macht gehievt hat. Nur ihnen vertraut er so halbwegs.
  • Die Oligarchen sind die Wirtschafts-Tycoons Russland. Sie sind während des Umbruchs nach der Sowjetunion zu unvorstellbarem Reichtum gekommen. Putin hat diese Menschen während seines Aufstiegs in St. Petersburg benutzt. Doch inzwischen sagt er sehr deutlich, wo es langgeht. Wer nicht spurt, bekommt einen Schauprozess. Oder fällt aus Hochäusern.

Russland ist traditionell anfällig für diktatorische Strukturen. Was aber nicht bedeutet, dass alle das System Putin klasse finden. Oder mit ihrer Position zufrieden sind.
Es ist also mehr als fraglich, ob eine Destabilisierung des Systems Putin tatsächlich zu einer außenpolitischen Eskalation führen würde.

Soviel wie geht, so wenig wie muss

Und das bedeutet wiederum, dass Waffenlieferungen und jede militärische Unterstützung der Ukraine immer nur so erfolgen, dass diese beiden Szenarien der Eskalation ausgeschlossen werden. Das ist damit gemeint, wenn Politiker sagen, sie hätten sich „mit den Partnern abgestimmt“.

Es ist gar nicht im Interesse des Westens, die russischen Streitkräfte in der Ukraine völlig zu vernichten.
Würden sie das wollen, wäre es sicher ein leichtes gewesen, längst entsprechende Waffen zur Verfügung zu stellen.
Alleine die „leichten“ Waffen wie Panzerfaust und Javelin haben im vergangenen Jahr bereits eine verheerende Wirkung auf das russische Militär gehabt.

Laut Politico hat Putin befohlen, den Donbass bis Ende März einzunehmen. Was sie ja bis heute nicht geschafft haben. Seit Wochen rennen russische Truppen gegen irgendwelche längst zerstörten Kuhkäffer an und schmelzen in der Wintersonne. (Bachmut etc.)
Ich habe mal über den Daumen gepeilt, dass es beim derzeitigen Landgewinn Russlands etwa sechs Jahre dauern würde, nur im Süden bis zum Dnepr vorzudringen. Also zur südlichen Hälfte, etwa ein Viertel der Ukraine.

In der vergangenen Woche berichtet das Online-Magazin, dass die gesamte 155ste Brigade vor dem bereits völlig zerstörten 14.000-Seelen-Kaff Wuhledar (Vuhledar, Вугледар) aufgerieben wurde. Weil es sich wie vor Kiew wieder vorne gestaut hat, und die Ukrainer dann Tontaubenschießen mit der Artillerie veranstaltet haben.

„Mach einfach einen Friedhof daraus. Man, die erste Kolonne fuhr dahin und ging hoch, und dann ging die zweite genau den gleichen Weg.“

Ukrainischer Artillerist, Politico, 12.02.2023

Selbst der russische Geheimdienstoffizier Igor Girkin (Deckname Igor Strelkow), über den ich mehrfach berichtet habe, bezeichnete die russischen Generäle öffentlich als „komplette Idioten, die nicht aus ihren Fehlern lernen.“
Auf seinem Telegram Kanal schrieb er:

„Die ukrainische Artillerie schießt außergewöhnlich genau. Mehr als 30 gepanzerte Fahrzeuge gingen verloren. Dutzende Panzermänner wurden getötet. Und noch mehr Marineinfanteristen, Spezialeinheiten und motorisierte Schützen wurden getötet. All diese Verluste waren nur auf einer Seite – die Ukrainer schossen auf die Angreifer wie auf einer Schießbude.“

Und genau das ist die Strategie des Westens. Der Ukraine eben genau so viel Möglichkeiten zu geben, um gegen die anstürmenden Russen bestehen zu können. Aber eben auch nicht mehr, um Russland nicht zur Eskalation provozieren.

Nicht vorwärts bedeutet irgendwann rückwärts

Und genau diese Strategie wird in der Öffentlichkeit von vielen offenbar gar nicht verstanden.
Man darf sowohl die Waffenlieferungen und die Unterstützung durch Informationen durch westliche Nachrichtendienste nicht isoliert sehen. Man muss sie immer im Zusammenhang mit den Sanktionen verstehen.

Die Karte des ISW von gestern.

Denn selbstverständlich hat Russland ein enormes Arsenal. Aber eben kein endloses.
Verschiedene Analysten und Nachrichtendienste wie das Institute For The Study Of War gehen davon aus, dass die Truppen zur Verteidigung – also die, die nicht in der Ukraine eingesetzt werden – inzwischen auf höchstens ein Drittel zusammengeschrumpft sind. Würde die NATO dort heute einmarschieren, wären sie in Moskau, bevor die in der Ukraine aufgetankt hätten.

Doch würde die Ukraine nun beispielsweise die Krim zurückerobern, bestünde die Gefahr, dass Russland tatsächlich nukleare Waffen einsetzt. Weil es die Krim als eigenes Territorium ansieht und weil das ein Rückschlag wäre, den die Propaganda des Kremls nicht mehr verkaufen könnte.

Also wäre es im Sinne der Ukraine und des Westens, wenn die Russen einfach nur nicht vorwärts kommen. Und irgendwann gezwungen sind, sich auch von der Krim zurückzuziehen. Weil es ihnen einfach zu teuer wird.
Der Donbass fällt weniger ins Gewicht. Da Russland Donezk und Luhansk bis heute nicht wirklich unter Kontrolle hat und die Guerilla Angriffe sich dort seit Wochen verstärken.

Das Ziel ist nicht Russland zu „vernichten“. Das Ziel ist auch nicht, die Truppen zu „vertreiben“.
Das Ziel ist, Russland ausbluten zu lassen, bis es sich von selber aus der Ukraine zurückziehen muss.
Und – das muss man so deutlich sagen – wer das nicht verstanden hat, hat überhaupt nicht verstanden, was in der Ukraine abgeht.

Die Prognose auf der letzten Seite:

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