Die Psychologie der Putinversteher

Der Feind in meinem Kopf

Das Modell

Um es einfacher zu machen, formulieren wir einmal ein Modell.
Ein Modell, wie jemand denkt, der russische Propaganda aufnimmt und reproduziert.

Derjenige hat ein Gefühl. Ob dieses Gefühl begründet ist oder nicht, spielt keine Rolle. Bei keinem Gefühl, von niemandem.
Es kann sein, dass er sich abgehängt fühlt, dass er etwas gegen die Regierung hat, dass er etwas gegen die EU hat, dass er etwas gegen die USA hat, dass er sich durch den Staat gegängelt fühlt… Es ist egal.
Mindestens eins davon wird zutreffen, vermutlich mehrere dieser Faktoren.

Vermutlich verfügt er auch über eine geringe Selbstwirksamkeitserwartung. Was laienhaft mit „Selbstbewusstsein“ nur schlecht übersetzt ist.
Derjenige hat tief in sich das Gefühl, nicht viel aus eigener Kraft an seiner Situation ändern zu können. Beispielsweise einen Job zu finden, indem er woanders hin zieht oder sich fortbildet. Dass er gerne mehr Aufmerksamkeit hätte, sie aber nicht bekommt. Dass er denkt, ihm stünde mehr zu, er aber keinen Weg sieht, das zu erreichen.

Aus dieser Menagerie von Gefühlen ist er auf dieser „Denk-Ebene“ für Russland. Etwas, was sich aus seinem ganzen vorherigen Denken, Wissen und Fühlen ergibt. Ob er nun wirklich für Russland oder einfach nur gegen die anderen ist, ist letztendlich egal.
Daraus formt er nun seine Meinung. Meinung ist ein Führwahrhalten, das sich von Glauben unterscheidet, aber ziemlich gleich funktioniert. „Die USA sind böse“ ist psychologisch nicht weit von „Es gibt Gott“ entfernt.

Ich habe einmal versucht, den psychologischen Prozess von einem Gefühl bis zur Handlung zu visualisieren.

Dieser Meinung wird alles andere untergeordnet.
Wird diese Meinung angegriffen, wird sie bis auf das letzte verteidigt. Denn würde man die Meinung beschädigen, würde auch das Selbstbild beschädigt. Das, was eigentlich noch vor dem Gefühl zu dieser Meinung geführt hat.

Das ewig Konservative

Und so versucht derjenige dann Bestätigungen für seine Meinungen zu finden. Er sammelt Links von Online-Beiträgen, die er in einem Gish-Galopp in Kommentarspalten kopieren kann. Ob bewusst oder unbewusst argumentiert er so viel Schwachsinn, dass man gemäß Brandolinis Gesetz (Bullshit Asymmetrie Prinzip) gar nicht mehr dagegen ankommt.
Vor allem aber merkt man das in Diskussionen, dass er falsche Informationen nebenbei und implizit in seine Argumente einfließen lässt. Diskutiert man weiter, ohne diese Falschinformationen sofort zu widerlegen, akzeptiert man sie.

Kommt man seinen gefühlten Wahrheiten, seinem Selbstbild zu nahe, begibt er sich in die Opferrolle. Er beklagt fehlende Tolleranz, fehlende Meinungsfreiheit und dass er in eine rechte Ecke gestellt würde.
Und das, obwohl er ja tatsächlich in fast allen Fällen genau aus dieser Ecke kommt. Weil er konservativ und minimalinvasiv ist und seine Welt und sein Selbst- und Weltbild eben nicht hinterfragen will. „Konservativ“ heißt auch „bewahrend“.

Wie mit solchen Menschen umgehen?

Und genau deshalb komme ich zu einem ernüchternden Ergebnis. Das sicher den ein oder anderen Leser mit Fragen zurücklassen wird.

Diese Menschen sind nicht erreichbar.
Sie sind durch nichts, was man in einer Diskussion auf einer Social Media Plattform tun könnte, irgendwie abholbar.

Persönlich diskutiere ich mit diesen Kommentatoren nicht.
Ich gehe häufig eine Diskussion ein. Aber eher, indem ich Fragen stelle. Es sind für mich Ratten, an denen ich Verhaltensforschung betreibe. Nicht, um sie zu überzeugen. Das kann ich nicht. Ich kann höchstens unterbinden, dass sie ihren Scheißdreck auf meinen Plattformen multiplizieren können.
Wie bei einem Leprakranken im Mittelater muss man die Emotionslosigkeit haben zu sagen: Raus aus dem Dorf, bevor er andere ansteckt.

Fragen stellen

Bei diesen Menschen, die zum Teil völlig absurd, gegen jede Logik und Moral für Russland argumentieren – oder gegen Impfungen, oder gegen die Genfer Konventionen, oder gegen unsere Demokratie – müsste man also bei jedem einzelnen versuchen zu verstehen, woher derjenige kommt. Um zu verstehen, wie er geworden ist, wie er ist.

Das ist mir tatsächlich – ganz nebenbei – bei zwei Kumpels gelungen. Die genau auf dieser populistischen AfD-Schiene waren. Aber das ging nicht bei einem Gespräch. Sondern es dauerte viel Zeit. Und es ist auch nicht absichtlich passiert. Ich wollte nicht belehren. Ich habe nur gezeigt, wie meine Weltsicht funktioniert. Den Rest haben sie selber gemacht.

Nur Fakten bringen da gar nichts. Man muss diesen Menschen erklären. Nicht wie ein Lehrer, sondern implizit. Auch ein Grund, warum Psychotherapeuten eher zu Fragen tendieren als zu Erklärungen.
Viele sind beispielsweise geradezu schockiert, wenn ich als eher Linker und Grüner für eine schnellere und rigorosere Abschiebung von Flüchtlingen bin, die entweder straffällig geworden sind oder keine Chance auf einen Aufenthaltstitel haben. Weil das nicht in ihre Vorstellung von Grün passt.

Das Verzeihen von Aggression

Ich persönlich verabscheue diese Menschen. Zutiefst. Sie widern mich an.
Das ist dann wieder meine eigene Gefühlsebene. Von der sich niemand frei machen kann. Ich weiß aber, woher das bei mir kommt. Das Problem dieser Welt ist, dass die Weisen so voller Zweifel sind, und die Idioten so voller Zuversicht.

Zum einen von der langen Sozialisation zum Teamplayer. Zur Erkenntnis, dass sich jeder der sozialen Gruppe unterzuordnen hat, in der er lebt. Ein Satz, bei dem sich sicher vielen, um die es hier geht, die Nackenhaare aufstellen. Ja, jede Gesellschaft hat Regeln. Vom Kegelclub bis zur NATO. Bei mir war es mein Elternhaus, Pfadfinder, Football und Militär. Und ausreichend Abstraktionsvermögen, um es zu übersetzen. Und zu merken, dass ich trotzdem freier bin, als die meisten Menschen auf diesem Erdball.

Zum anderen durch meine Liebe zur Wissenschaft. Logik und Empirie sind die heiligen Hallen der Menschheit, nur sie unterscheiden uns vom Tier. Hätte ich eine Zeitreise gut, würde ich mich als 19-jähriger nach Oxford oder Harvard oder Cambridge versetzen. Am Besten in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Nur um das alte Holz der Bibliotheken zu riechen und die Bücher inhalieren zu können.
Die altersbedingten Bedürfnisse nach Alkohol, Blowjobs und Rock n‘ Roll finden sich dann schon. Das wächst sich aus. Die Jugend ist eh an die Jugend verschwendet. Man findet Prioritäten.

Es ist viel schlimmer

Ich halte diese Klientel nicht für Nazis. Eigentlich ist es schlimmer. Ich halte sie für Mitläufer. Aus ganz eigenen, egoistischen, egozentrischen, undurchdachten, subjektiven und gefühlten Motiven. Sie widersprechen allem, woran ich glaube.
Ich kann nicht verzeihen, dass sie bereit sind, sich derart durch ihre Gefühle leiten zu lassen. Und so wenig in der Lage sind, sich selber zu hinterfragen. Und eher bereit sind Fakten zu negieren, als das Kreuz zu haben sich ihrem Selbstbild zu stellen. Wie kann sich jemand so linkisch gegen sein Team stellen? Und da sind wir wieder am Anfang: Weil derjenige nie „gefühlt“ hat, dass er in einem Team spielt.

Ich halte einen Mitläufer auf Twitter für genauso moralisch verkommen wie Putin oder Kim Jong-un. Eigentlich sogar für schlimmer. Die haben wenigstens die Chuzpe und Cojones es umzusetzen, ihr Gesicht zu zeigen und ganz offiziell auf Menschenrechte zu scheißen. Die Kommentatoren auf Social Media trauen sich ja nicht einmal das. Viele trauen es sich nicht einmal sich selbst gegenüber. Ihr Gefühl ist ihnen mehr wert als ein Kind, das beim Bombenalarm weinend in Saporischschja im Keller sitzt.
Wie gerne hätte ich sie als Rekrut in meiner Ausbildung gehabt.

Aber genau das ist der Punkt. Ich lasse meine Gefühle nicht meine Handlungen bestimmen.
Es werfe den ersten Stein, wer noch nie von einem MG-Nest über einer Querdenker-Demo in Bautzen geträumt hat.
Ich kann lediglich versuchen, Fakten zu liefern. Und damit eine Basis für jene schaffen, die ergebnisoffen urteilen und sich erst daraus eine Meinung bilden. Oder ihre Meinung zumindest beeinflussen lassen.
Wissenschaft zieht Schlüsse aus Fakten und passt nicht die Fakten der eigenen Theorie an.

Damit diese Leute nicht die Oberhand gewinnen. Retten kann ich sie eh nicht.
Deren Zug war in dem Moment bereits abgefahren, als sie sich die Meinung gebildet haben, der Überfall einer Diktatur auf ein anderes Land sei irgendwie akzeptabel.
Und eigentlich schon weit davor.

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