Russlands angebliche Angst vor der NATO in der Ukraine

Von Raketen, U-Booten und Scheinargumenten

SSBN

Genau deshalb habe ich die Trident als Beispiel genommen. Denn das sind interkontinentale Raketen, die von den so genannten Atom-U-Booten aus abgeschossen werden. „So genannt“, weil „Atom-U-Boot“ nur den Antrieb bezeichnet. Nicht, dass sie „Atomraketen“ tragen können. Das wird ständig durcheinandergeworfen. Auch geschenkt, Hauptsache wir wissen alle, wovon wir sprechen.

Die U-Boote, die strategische „Atomraketen“ tragen können, nennt man SSBN. Wie die russische Kursk (Oskar II-Klasse), die gesunken ist.
Und diese Waffensysteme werden gerne von Ganser und Konsorten „vergessen“. Stört auch nur das Narrativ.

Auf der Karte wird deutlich, wo diese U-Boote überall hinfahren könnten, um Raketen abzufeuern. In einem Fünf-Minuten-Radius! Die müssen zum Abfeuern übrigens nicht einmal auftauchen.
Die Trident II ist auf den Booten der Ohio-Klasse stationiert. Und davon haben die USA derzeit 18. Aber auch Frankreich hat solche Boote, auf den vier Booten der britischen Vanguard-Klasse sind sogar die gleichen Raketen.

Das bedeutet, diese Boote können bis in die Ostsee tauchen, kurz vor St. Petersburg, und von da abfeuern. Sie können unter dem Nordpol durchtauchen, an Skandinavien vorbei und von da aus St. Petersburg angreifen. Die Entfernung von einer Stelle vor Polen dürfte auch nicht so viel kürzer sein. Und sie können sogar bis vor die Krim fahren.

„Moment“, wir der aufmerksame Leser nun sagen, „aber was ist mit strategischen Waffen? Was ist mit denen, die nicht interkontinental sind?“
Ich freue mich, danke für die Frage und Ihre rege Teilnahme.

2800 Atomraketen auf einmal

Tomahawk-Raketen sind viel kleiner und langsamer. Aber auch sie können nuklear bestückt werden. Und genau deshalb kann ein Boot der Ohio-Klasse 154 davon abschießen. Von den Trident „nur“ 24.

Das bedeutet, alleine die 18 Boote der Ohio Klasse könnten fast 2800 dieser Raketen abfeuern. Und ich wäre geneigt sehr viel darauf zu verwetten, dass die russische Raketenabwehr damit nicht klarkäme.

Ich erspare es mir an dieser Stelle aufzuzählen, welche anderen Nationen alle solche Raketen haben oder von welchen U-Booten (und Schiffen) aus sie abgefeuert werden können.
Denn es geht ja nur darum, das Argument der Raketen in der Ukraine als Bedrohung zu hinterfragen. Relationen deutlich zu machen. Und damit das Argument zu hinterfragen, Russland müsste einmarschieren, um sich zu verteidigen.

Kosten-Nutzen-Rechnung

Natürlich ist es immer ungünstig, wenn der vermeintliche Feind näher an die Haustüre kommt. Das bestreite ich nicht und das bestreitet auch keiner, der sich halbwegs damit auskennt. Denn es geht ja auch immer um konventionelle Kriegsführung. Doch diese ist hier quasi irrelevant. Weil die Doktrin Russlands seit 2000 vorsieht, bei jedem Angriff auf Russland sofort nuklear zu eskalieren.
Diese Überlegungen können also vernachlässigt werden.

Würde das Argument stimmen, ginge es vielleicht um wenige Minuten Reaktionszeit.
Doch diese Reaktionszeit wird insgesamt auf etwa 30 Minuten geschätzt. Also vom Abfeuern, Erkennen bis zu den Gegenmaßnahmen. Und genau in dieser Relation muss man das einordnen.

Würde es sich dafür lohnen, einen nuklearen Krieg zu riskieren? Nur um eventuell einen Stützpunkt zu haben, um Raketen 2 Minuten früher abzufeuern? Was man eh längst viel geschmeidiger kann?
Ich denke sicher nicht. Und aufgrund meiner Erfahrungen innerhalb der NATO sehe ich nicht einmal Bestrebungen. So denkt die NATO nicht.

Nicht Raketen, sondern Weizen

Ich erlaube mir nicht, müde zu werden zu wiederholen: Es geht um Macht und Ressourcen. Um nichts anderes.

Das Einzige, was Russland zu verkaufen hat, sind fossile Brennstoffe und Waffen. Doch durch verschiedene Entwicklungen will die keiner mehr. Auch wenn Indien und China jetzt mal kurz zu Dumpingpreisen zugeschlagen haben. Think big: stellen wir uns vor, was erneuerbare Energien für Russland in den nächsten Jahrzehnten bedeuten.
Niemand mag Kwas und keiner will russische Autos. Und für ordinäre Pfannkuchen oder niederländische Poffertjes kann sich jeder Blini verpissen.

Russland ist ein Schwellenland. Und es hat seine Chancen durch den Überfall auf die Ukraine deutlich erhöht, zum Dritte-Welt-Land zu werden.
Das Einzige, was Russland noch hat, sind die Waffen aus der Sowjetzeit. Nur deshalb sitzen sie noch im Sicherheitsrat der UN. Und Putin musste die Ukraine jetzt angreifen, um sich einen Platz am Pokertisch der Großen zu sichern. Weil Russland längst von China und Indien überholt wird. Auch militärisch.

Genau deshalb war Putin weise. Der alte Nachrichtenmann. Er hat in Russland seit 20 Jahren einen Nationalismus wieder aufgebaut. Weil die russische Seele durch den Zusammenbruch der Sowjetunion tief verletzt ist. Das Muster kennen wir, denn nur der Niedergang Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg hat die Nazis überhaupt möglich gemacht. Auf dieser Ebene ist Putin also durchaus mit Hitler vergleichbar. Auch wenn nicht alles was hinkt ein Vergleich ist.

Deshalb hat die Partei „Vereintes Russland“ (Jedinaja Rossija, Единая Россия, rechts von der AfD) die absolute Mehrheit. Der Putin nicht einmal selber angehört.
Im russischen Verständnis ist die Dreieinigkeit der russischen Völker verankert: Russland, Weißrussland (Belarus) und Kleinrussland (Ukraine). Und deshalb sprechen russische Politiker der Ukraine inzwischen auch offen das Existenzrecht ab.

Die westlichen Länder, allen voran die EU, wollen die Ukraine als europäischen Partner gewinnen. Die Ukraine ist der größte Getreidehersteller Europas. Da kann man gute Geschäfte machen. Und genau dahin hat sich die Ukraine ja seit 2014 bewegt. Während der vorherige russlandfreundliche Machthaber Janukowitsch das immer wieder ausgebremst hat. Während er sich um Milliarden bereichert hat.

Das Verteidigungsbündnis der NATO hat damit wenig zu tun.
Und sicher keine paar Minuten Flugzeit von Raketen. Das ist ein Scheinargument der russischen Propaganda.

Die Ukraine hat Russland am 29.03.22 im „Istanbuler Kommuniqué“ angeboten, nicht der NATO beizutreten.
Russland hat abgelehnt. Mehr gibt es nicht zu sagen.

Aktuelles