Der Putsch, der Bürgerkrieg und ein Blick in die russische Seele

Falsche Erwartungshaltung aus europäischen Augen

Nach zwei überarbeiteten Tagen während des Wagner-Putsches versuche ich „aufzuräumen“ und etwas Analyse und Erklärung in die Sache zu bringen. Denn es fliegt nach wie vor viel zu viel Unfug und Spekulation durch das Netz.
Dieser Beitrag wurde auch auf der Facebook Fanpage veröffentlicht.

Viele Kommentare und Fragen haben sich damit beschäftigt, ob in Russland nun ein Bürgerkrieg ausbrechen wird. Oder ob es nun, nach dem Ende des Putschversuchs, noch zu ähnlichen „Aufständen“ kommen kann.
Ich hatte es schon einmal in einem Artikel versucht zu erklären. Hier überspitzt (!) nochmal in Kurzform:

Unsere Weltsicht ist stark durch die deutsche Geschichte geprägt. Unser Verhältnis zu politischen Führern, zu Eliten und zum Adel. Das ist in Russland nicht anders. Nur dass die eine andere Geschichte hatten.

Iwan IV. Wassiljewitsch („Iwan der Schreckliche“) war der erste Großfürst von Moskau. Vorher gab es nur die mongolische Besatzung und einzelne Fürstentümer. Diese Fürstentümer waren geleitet durch die Bojaren, die unteren Adeligen.
Iwan ließ sich schon mit 16 zum Zaren krönen, nachdem er quasi in Geiselhaft aufgewachsen war und Angehörige und Führsprecher ermordet worden waren. Das war 1547, Russland ist also vergleichsweise jung.

Iwan kämpfte sich nach und nach politisch und mit Gewalt an die Macht. Zwar gründete er ein erstes russisches Parlament: Semski Sobor. Andererseits nahm er den Bojaren aber Stück für Stück die Macht. Auch durch Hinrichtungen und Staatsterror.
Er annektierte Gebiete und unterstellte sie dem Zaren direkt. Das Gebiet wurde Opritschnina genannt. Zu dessen Schutz schuf er eine Art Miliz und Geheimpolizei, die nach dem Gebiet Opritschniki genannt wurden. Darunter waren Vertrauenspersonen, hohe Adelige, Tataren und viele europäische Söldner.

Das Volk hat nur eine Daseinsberechtigung: Die Erfüllung des Willens des Führers.
Niemand leidet gerne. Aber die Russen haben es zu einer Tugend erklärt. Zu leiden ist etwas Akzeptiertes und Respektables.

Das sehen wir bummelig 150 Jahre später, als Zar Peter der Große, der so gerne von anderen europäischen Herrscherhäusern als gleichwertiger, europäischer Herrscher gesehen werden wollte, vom Reißbrett aus in einem Gewaltakt St. Petersburg als „europäischen Hafen“ und Hauptstadt erbauen ließ. Mit Hilfe von Sklaven und tausenden Toten.
Putin stammt übrigens aus St. Petersburg, er ist damit also aufgewachsen.

Diese Hierarchie der Gesellschaft sehen wir bis heute. Weil das alles so prägend für das Weltbild der russischen Gesellschaft war und ist. Selbst wenn viele Russen sich das so nicht klar machen. Sie haben meist ja keinen Vergleich.

Natürlich gab es mal die kommunistische Revolution. Die wurde aber durch das enorme Leid der Bevölkerung und den ersten Weltkrieg gefördert. Das russische Volk erhob sich. Um dann sofort in die alten Rollenbilder zurückzufallen.
Und auch in den 1990ern sehen wir das Gleiche erneut. Die Sowjetunion zerbricht, alles wird gleichsam auf Null gesetzt, man bewegt sich chaotisch auf zumindest halbwegs auf so etwas wie eine Demokratie zu. Um dann sofort in den Putinismus und die gleichen Hierarchien zu verfallen.

Putin ist der Zar. Er ist unangreifbar. Wenn irgendwas nicht so läuft, ist das nicht die Schuld des Führers. Es ist die Schuld derer, die seinen Willen nicht wie gewollt umgesetzt haben.
Dann wird ein Schuldiger gesucht.
Aber nicht aus dem inneren Zirkel. Nicht aus den Seilschaften der Geheimdienste und Militärs, den so genannte Silowiki. Nicht aus den Opritschniki. Sondern aus den Bojaren. Den unteren Rängen. Das ist der Grund, warum Putin gerne mal vor laufenden Kameras irgendwelche Minister zusammenfaltet, was sie für einen Mist machen. Und die nur kleinlaut nicken können, weil sie sonst verschwinden.
Der Kreml hat unlängst die Ausweise vieler dieser Bojaren, der hohen Beamten und Führer der Teilrepubliken, eingezogen. Damit die sich nicht absetzen können.
Und das ist der Grund, warum Oligarchen Schauprozesse gemacht werden oder sie die Treppe runterfallen. Es ist alles wie bei Iwan.

Das erklärt beispielsweise auch, warum es für Russland völlig selbstverständlich ist, große Söldnergruppen zu unterhalten. Etwas, was kein anderer Staat dieser Größe machen würde. Es erklärt, warum Schoigu und Gerassimov unantastbar sind. Es erklärt aber auch, warum jemand wie Prigoschin sich erlauben kann, was er sich erlaubt. Solche Reibereien innerhalb des inneren Zirkels hat es auch unter den Adeligen des Zarenreiches und innerhalb der Kommunistischen Partei gegeben. Es wäre überraschend, wenn Prigoschin etwas zustoßen würde. Immerhin hat er auch die Trollfabrik „Internet Research Agency“ (Агентство интернет-исследований, Glavset) finanziert, die in den Trump-Wahlkampf eingegriffen hat.

Putin hat den Putschversuch als Verrat bezeichnet. Das war kein Verrat an Russland. Es war Verrat an den Eliten und an dem System Putin. Vermutlich hat Prigoschin den Bogen nicht einmal damit überspannt, dass seine Söldner auf Moskau zugerollt sind. Sondern damit, dass er die Kriegsgründe öffentlich als vorgeschoben bezeichnet hat.

Und es erklärt die Dreieinigkeit Russlands. Russland, Belarus („Weißrussland“) und die Ukraine („Kleinrussland“) sollen wieder unter einer Herrschaft vereint werden. Dazu müssen sie nicht zwangsläufig dem russischen Staat eingegliedert werden. Es reicht vollkommen, wenn die Stadthalter, die Opritschniki, nach Moskaus Pfeife tanzen. So, wie es unter Iwan war.

Nein, ich rechne nicht mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Weil das nach Auffassung der Russen gar nicht ihr Job ist. Die Bevölkerung ist losgelöst von den Herrschenden. Und selbst wenn es zu einem Aufstand kommt, wird es eher um die Machtkontrolle unter verschiedenen Gruppierungen gehen. Und es wird sich schnell wieder alles in dem alten Weltbild einfinden.

Auch wenn Putin weg ist, wird der nächste und übernächste russische Staat genauso funktionieren.
Damit das anders würde, müsste es eine radikale Demokratisierung in den Köpfen geben. Die mindestens drei Generationen dauern würde. Was der jeweils Herrschende natürlich durch entsprechende Propaganda zu verhindern weiß. So wie unterm Zaren, so wie durch den KGB.

Der Putsch hat lediglich gezeigt, dass Putin eben nicht so unantastbar ist, wie das russische Volk das von seinem Führer erwartet. Weshalb der sich auch gerne mal im Kraftraum oder mit nacktem Oberkörper auf dem Pferd ablichten lässt.
Das kann durchaus dazu führen, dass das jetzige System kollabiert. Denn Putin hat zwangsläufig dadurch Schwäche gezeigt, dass er Prigoschin als Verräter bezeichnet hat und ihn jetzt offiziell ziehen lässt.
Ein Kollaps wird aber nicht durch einen Bürgerkrieg, geschweige denn durch einen Demokratisierungsprozess passieren.

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