Russische Offensive: Was heißt das?

Ein Erklärunsgversuch

Offenbar hat eine russische Offensive im Osten der Ukraine begonnen. Die Meldungen in den großen Medien dazu sind erneut oberflächlich. Ein Erklärungsversuch.

Die Ukraine hat gemeldet, dass gestern Abend im Osten eine russische Großoffensive begonnen hat.
Die Meldungen in den großen Medien sind trotz Schlagzeilen eher oberflächlich. Das liegt vermutlich erneut an der nicht ausgeprägt vorhandenen Kompetenz in den Redaktionen.
Fast alle Berichte dazu ziehen Informationen aus Agenturmeldungen zusammen. Häufig genannt sind Reuters und erneut die Agence France-Presse AFP.

Um die gesamte Lage verstehen zu können, muss man englischsprachige Fach-Seiten heranziehen.
Für einen Erklärungsansatz überspringen wir also einfach mal die Medien und die Agenturen dahinter.

Beim russischen Einfall in die Ukraine konnte man schnell sehen, dass Russland den Krieg gegen die Ukraine völlig unterschätzt hatte.
Krieg funktioniert heutzutage nicht mehr so, wie wir es auf Karten im Geschichtsunterricht gelernt haben. Mit einem Vorrücken großer, geschlossener Verbände, einem eindeutigen Frontverlauf und dem Kampf um Raumgewinn. Das lief schon in Vietnam nicht mehr so, und in keinem Krieg seitdem.

Hinzu kommt, dass die Ukraine weniger Soldaten und Material hat. Sie sind bei weitem nicht wehrlos, aber sie haben halt deutlich weniger. Also setzen sie auf das, was gerne als Guerilla bezeichnet wird. Der passendere Begriff ist „asymmetrische Kriegsführung“.
Die ukrainischen Streitkräfte stellen sich gar nicht erst mit einer breiten Reihe von Panzern auf einem Feld gegen die Russen. Wie das in den Grabenkämpfen beispielsweise an der Westfront im ersten Weltkrieg aussah.
Symptomatischer ist eher das, was man inzwischen in vielen Videos sehen kann: Kleine Trupps laufen irgendwohin, schießen mit einer Rakete auf ein paar Panzer und laufen wieder weg. Sie nutzen auch kleine Drohnen zur Aufklärung, mobile Artillerie und so weiter.
Und genau dafür sind die russischen Streitkräfte nicht ausgelegt.

Russland geht auf Masse, nicht auf Klasse. Das hat Tradition.
Das Problem daran ist, dass Russland unterm Zaren und später als Sowjetunion viel mehr Einwohner hatte. Im heutigen Russland leben weniger Menschen als in Frankreich und Deutschland zusammen. Das wurde im russischen Militär nie wirklich angepasst. Man sitzt auf Tonnen sowjetischen Waffen, hat aber nicht mehr die Kapazitäten das Material zu bewegen.

Und genau das sahen wir in den ersten Wochen des Kriegs. Russland hat versucht vom Norden, von Belarus aus auf die Hauptstadt Kiew vorzustoßen. Und im Nordosten von Russland aus die zweitgrößte Stadt Charkiw einzunehmen. Beides ist nicht gelungen. Viele werden die Bilder des kilometerlangen Konvois vor Kiew gesehen haben. Wo die russischen Truppen, Versorgung und Nachschub, aufgereiht wie die Schießbudenfiguren standen. Das passiert, wenn die kämpfenden Truppen vorne nicht weiterkommen und in Kämpfen gebunden sind.

Im Süden hat Russland 2014 die Halbinsel Krim annektiert. Die ist also fest in russischer Hand. Im Osten haben die selbsternannten Volksrepubliken zur selben Zeit einen Bürgerkrieg begonnen. Der seit Beginn von Russland unterstützt wird. Und später nachweislich von hochrangigen russischen Militärs koordiniert wurde. Dieses Gebiet ist der Donbass. Er ist nicht fest in russischer Hand, aber Russland ist dort sehr präsent.

Russland versucht nun, entlang der Küste zwischen Krim und Donbass einen Korridor zu erobern. Diese Gebiete zu verbinden würde den Nachschub erleichtern. Denn bisher muss alles mühsam per Schiff oder Flugzeug auf die Krim gebracht werden.
Dazwischen liegt die schwer umkämpfte Stadt Mariupol. Sie ist quasi eingeschlossen und dürfte inzwischen weitestgehend zerstört sein. Trotzdem harren dort nach ukrainischen Angaben noch um die 100.000 Zivilisten aus.

Vor einigen Wochen hat Russland nun angekündigt, sich auf den Osten „zu konzentrieren“. Persönlich werte ich das als Scheitern der offenbar illusorischen Eroberungspläne.
Seitdem wird eine große Offensive im Osten erwartet. Die scheint nun begonnen zu haben.

Karte des ISW vom 18.04.22,
volle Auflösung bei Klick.

Russland besinnt sich so zu sagen auf das, was es kann. Beziehungsweise wofür seine Truppen ausgestattet sind. Mit hohem Materialeinsatz wie mit einer Planierraupe wie im ersten Weltkrieg Raumgewinn zu erzielen.
Das hat für Russland den Vorteil, die ukrainischen Kräfte auseinander zu ziehen und gleichsam zu überrollen.

Seit gestern Abend werden schwere Kämpfe in Mariupol, in Charkiv und in vielen Orten entlang dieser Linie gemeldet. Wie zu erwarten war, wurde der Beschuss durch Artillerie und Raketen erhöht. Das ist das übliche Vorgehen bei einer solchen Offensive: Erst sturmreif bomben, dann kommen die Panzer.
Wir werden in den nächsten Tagen und Wochen genau das in den Meldungen finden.

Ich gehe davon aus, dass Russland versuchen wird, in einer Zangenbewegung die ukrainischen Truppen einzuschließen. Vermutlich wollen sie vom Norden aus Richtung Charkiv und vom Süden aus in der Breite bis zum Dnepr vorstoßen. Der Fluss trennt die Ukraine quasi in Ost und West. Er wird sowohl für Angreifer als auch Verteidiger schwer zu überwinden sein. Daher wäre das strategisch naheliegend.

Doch damit ist die Sache noch lange nicht entschieden.
Viele Militärexperten gehen davon aus, dass Russland keine neuen Truppen im nennenswerten Umfang zugezogen hat. Es sind nicht plötzlich mehr Truppen als vorher eh schon da waren.
Organisationen wie das Institute for the Study of War werten auch geheimdienstliche Informationen aus. Sie wissen also recht genau, wo welche Truppen eingesetzt sind. Und sie sagen, das ist zwar eine neue Strategie. Aber die gleiche Armee.
Offenbar hat Russland es nicht geschafft, seine Kräfte zu erneuern. Scheinbar nicht einmal kaputte Panzer zu ersetzen. Und das deutet wiederum darauf hin, dass es schlicht nicht mehr kann. Es ist nicht zu erwarten, dass da plötzlich hunderttausende frischer Soldaten und neue Panzer am Horizont auftauchen. Denn wenn, hätte das jetzt passieren müssen.
Die Schlagzeilen der „Großoffensive“ sind also wiedermal mit Vorsicht zu genießen.

Was passieren wird ist aber sicher, dass die Bombardements verstärkt werden. Eventuell werden wir offene Schlachten sehen. Doch die Ukraine wird weiter auf ihre bisherige Taktik des Verzögerns setzen.

Das macht einen so genannten „frozen conflict“, eine festgefahrene Situation, immer wahrscheinlicher. Völlig unabhängig davon, ob Russland den Dnepr erreichen wird. Sol lange die ukrainischen Kräfte um die Russischen herumtanzen wie ein Leichtgewicht-Boxer um einen Sumoringer, kann Russland nicht gewinnen. Zumindest nicht so, wie es sich das offenbar gedacht hat.

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