Offener Brief: Ängstliche Meinungsäußerung Intellektueller

Die Aufregung nicht wert

„Wir bitten Sie im Gegenteil dringlich, alles dazu beizutragen, dass es so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstand kommen kann; zu einem Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können.“

Und das erklärt sicher auch, warum ich an keinen Kompromiss glaube.
Ich glaube an eine Ermüdung. Dass Russland irgendwann so viel Geld reingebuttert hat, so isoliert ist, die Stimmung im eigenen Land so desolat ist, dass die Führung sich unter gesichtswahrenden Argumenten zurückzieht. Auch das wird dann auf den Schreibtischen der Propaganda-Büros entscheiden, nicht auf den Schlachtfeldern.
So lange Russland auch nur den Hauch einer Chance sieht, so lange es Russland nicht ausreichend weh tut, wird es keinen Kompromiss geben. Weder die Überlassung des Donbass, noch die Neutralität der Ukraine.

Russische Quellen haben in den vergangenen zwei Wochen mehrfach in unterschiedlichen Eskalierungsstufen deutlich gemacht, dass sie die gesamte Schwarzmeerküste haben wollen. Weil sie darüber wiederum an Transnistrien herankommen.
Ich glaube zutiefst nicht, dass darunter irgendetwas zu verhandeln ist. Zumindest nicht in absehbarer Zeit.

„Wir teilen auch die Überzeugung, dass es eine prinzipielle politisch-moralische Pflicht gibt, vor aggressiver Gewalt nicht ohne Gegenwehr zurückzuweichen. Doch alles, was sich daraus ableiten lässt, hat Grenzen in anderen Geboten der politischen Ethik.
Zwei solche Grenzlinien sind nach unserer Überzeugung jetzt erreicht: Erstens das kategorische Verbot, ein manifestes Risiko der Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt in Kauf zu nehmen.“

Zum ersten würde das – zu Ende gedacht – bedeuten, dass man aus ethischen Gründen davor einknickt, wenn die Aggression nur groß genug ist.
Im Grunde könnte man Russland gleich den Kaukasus noch mit dazu geben. Denn die Aggression und die Kapazitäten an Mensch und Material sind dafür allemal groß genug.
Das ist wohl der größte Widerspruch. Die Unterzeichner des offenen Briefes trauen Russland zwar zu, einen dritten Weltkrieg anzufangen. Aber nicht, sich auch noch den Kaukasus oder Moldawien einzuverleiben.

„Die Lieferung großer Mengen schwerer Waffen allerdings könnte Deutschland selbst zur Kriegspartei machen. Und ein russischer Gegenschlag könnte so dann den Beistandsfall nach dem NATO-Vertrag und damit die unmittelbare Gefahr eines Weltkriegs auslösen.“

Auch das halte ich für eine Verzerrung. Denn wir diskutieren aktuell über einige Panzer. Die Entscheidung darüber ist längst gefallen. Übrigens durch den Bundestag und nicht durch Olaf Scholz alleine. Was zeigt, dass der offene Brief doch eher die Bevölkerung adressiert, als den Kanzler.
Bisher haben die USA Waffen und Gerät im Wert von über eine Milliarde geliefert. Polen, Niederlande, Tschechien… es wäre eine lange Liste, wer alles liefert.
Es ist mir nicht erklärlich, warum die Unterzeichner des Briefes Angst davor haben, dass Deutschland Kriegspartei werden könnte. Greift die Ukraine morgen Polen an, sind wir auch im Krieg. Völlig egal, ob wir auch nur eine Patrone geliefert haben.

„Die zweite Grenzlinie ist das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung. Selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor steht dazu irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis.“

Ich bestreite, dass es diese zweite Grenzlinie für alle Menschen gibt. Denn das ist eine moralische, ethische Frage, die situationsabhängig ist.
Um sich dem sachlich zu nähern, müsste man einkalkulieren, was der ukrainischen Zivilbevölkerung droht, wenn sie sich nun ergibt. Persönlich halte ich zumindest den Versuch eines Genozids und humanitäre Katastrophen für plausibel.
Natürlich kann Deutschland für sich entscheiden, ob die Lieferungen von Waffen seine ethischen Grenzen überschreiten. Es kann aber nicht für die ukrainische Bevölkerung entscheiden. Und da habe ich eher den Eindruck, die ist bereit so lange Widerstand zu leisten, bis keiner mehr steht.

„Wir warnen vor einem zweifachen Irrtum: Zum einen, dass die Verantwortung für die Gefahr einer Eskalation zum atomaren Konflikt allein den ursprünglichen Aggressor angehe und nicht auch diejenigen, die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern.“

Ich warne vor der Illusion, der Aggressor würde den Einsatz atomarer Waffen von einem solchen Motiv abhängig machen. Das hätte Russland längst tun können.
Zudem wiederholt sich hier mein Argument, dass zu Ende gedacht nur die Aggression und der Wille groß genug sein müssen, damit man einknickt. Dann kann man sich den Krieg auch gleich sparen.

„Und zum andern, dass die Entscheidung über die moralische Verantwortbarkeit der weiteren »Kosten« an Menschenleben unter der ukrainischen Zivilbevölkerung ausschließlich in die Zuständigkeit ihrer Regierung falle. Moralisch verbindliche Normen sind universaler Natur.“

Das sehe ich, wie bereits erklärt, anders.

„Die unter Druck stattfindende eskalierende Aufrüstung könnte der Beginn einer weltweiten Rüstungsspirale mit katastrophalen Konsequenzen sein, nicht zuletzt auch für die globale Gesundheit und den Klimawandel.“

Wenn eine Rüstung nötig ist, dann nur weil Russland bewiesen hat, sich nicht mit seinem Platz in der internationalen Hackordnung bescheiden zu wollen.
Allerdings sehe ich sie gar nicht. Was vermutlich daran liegt, dass ich einen anderen Blick auf „Rüstung“ habe.
Es wurden immer neue Waffensysteme erforscht, konstruiert und verkauft. Das hat nie aufgehört. China und Indien rüsten massiv auf. Russland hat seit locker 10 Jahren aufgerüstet, sogar als „Reform der Streitkräfte“ offiziell angekündigt. Inklusive neuer Interkontinentalraketen.
Das einzige, wo die Aufrüstung an ihre Grenzen gestoßen ist, ist der nukleare Bereich. Wenn NATO und Russland genug Sprengkraft besitzen, um diesen Planeten in Sternenstaub zu verwandeln, ist der Sinn der Abschreckung an ein natürliches Ende gekommen. Es geht um Zweitschlagfähigkeit und Abwehrsysteme. Und diese „Aufrüstung“ war nie zu Ende.

Konventionell ist da nichts Relevantes auf langer Sicht zu sehen. Erst recht nichts Klimawandelndes. Russland ist der NATO konventionell leicht um das zehnfache unterlegen. Soviel Gas können die gar nicht an gierige westliche Firmen verbimseln, dass sie das in nächster Zeit aufholen. Und Öl an verantwortungsdiffundierende deutsche Autofahrer auch nicht.

„Es gilt, bei allen Unterschieden, einen weltweiten Frieden anzustreben.“

Niemand bestreitet das. Aber wer sagt’s den Russen?

Eine ängstliche Meinungsäußerung

Ich halte diesen Brief für eine Meinungsäußerung, die vor allem auf Angst begründet ist. Was ja völlig zulässig ist. Und nicht unbegründet. Die Frage ist doch, wieviel Beachtung man dem schenkt.

Es ist ja nicht das erste Mal in der jüngeren Vergangenheit, dass „Intellektuelle und KünstlerInnen“ sich mit gefühligen Meinungsäußerungen zu komplexen politischen Themen äußern.
Ich möchte den Unterzeichnenden nicht pauschal jegliche Kompetenz absprechen. Allerdings stelle ich mir die Frage, ob ein Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar mit einem Querdenker über empirische Wissenschaft diskutieren würde.
Genau so ordne ich den offenen Brief ein. Es ist nur eine Meinungsäußerung. Von Menschen, deren Kompetenzen vielleicht nicht ausdrücklich in den Bereichen liegen, die dazu nötig wären.

Was mich daran und an den 138.000 Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern viel mehr beschäftigt, ist die Konzeptlosigkeit.
Denn es wird kein Vorschlag gemacht, wie ein Kompromiss zwischen der Ukraine und Russland aussehen könnte. Solche Detailfragen überlässt man lieber anderen. Dem deutschen Pazifisten reicht eine Willensäußerung.

Stattdessen scheint man lieber die Augen davor zu verschließen, was der Ukraine blüht, wenn sie die Waffen streckt. Sowohl dem Staat, als auch der Zivilbevölkerung. Die offenbar als Schützenswerter empfunden wird.

Und das ist ein gesellschaftliches Phänomen: Die Soldaten haben es sich ja selber ausgesucht …die Söldnermentalität der friedlichen Wohlstandsverwahrlosung.
Laut einer 2015 durchgeführten Umfrage des Gallup Instituts wären nur 18 Prozent der Deutschen bereit, für ihr Land zu kämpfen. Der drittletzte Platz, nur unterboten durch die Niederlande und Japan. In den USA sind es immerhin 44 Prozent, in Polen 47. In der russischen Föderation waren es 59 Prozent.

Ich erwarte wenig Verständnis von deutschen „Intellektuellen und KünstlerInnen“ für eine Geisteshaltung, in der Menschen lieber sterben, als sich unterdrücken zu lassen.

Wenn alle ihre Knüppel fallenlassen, haben gewaltablehnende Pazifisten kein Konzept anzubieten, falls der erste seinen Knüppel wieder aufhebt.

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