Offener Brief: Ängstliche Meinungsäußerung Intellektueller

Die Aufregung nicht wert

Manchmal erreichen uns Informationen, die es uns schwer machen, unsere Gedanken zu sortieren. Das können Filme, Bücher oder Dokumentationen sein, die uns in einem Gefühl der Ohnmacht zurücklassen. Es kann die Aussage eines Freundes, Verwandten oder Partners sein. Oder es kann ein offener Brief sein, wie er am Freitag veröffentlicht wurde.

Diese gefühlte Diskrepanz entsteht auch dadurch, dass uns so viele Gedanken durch den Kopf gehen, die uns das Gefühl geben, sie loswerden zu müssen. Es ist ein gesellschaftliches Mem, mit irgendjemandem über etwas reden zu müssen. Auch, weil wir es dadurch selber verarbeiten. Oder weil wir den Drang haben, unsere Perspektive zu vertreten.
Das Gefühl entsteht aber vor allem dann, wenn es zu irgendetwas so viel zu sagen gäbe, dass man spürt, dass man damit eh niemanden erreichen könnte.

Am vergangenen Freitag wurde ein offener Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz in dem Frauenmagazin Emma veröffentlicht. Unterschrieben von „28 Intellektuellen und KünstlerInnen“.
Dieser Brief löst bis heute starke Reaktionen in den sozialen Medien aus. Und ich glaube, das liegt an dem beschriebenen Effekt.

Für mich persönlich ist es sehr einfach. Ich habe die sechs kurzen Abschnitte überflogen. Und halte sie für den realitätsfernen Wohlstandspazifismus von verkopften Intellektuellen.
Aber ich möchte das gar nicht so einfach abbügeln. Weil dieser offene Brief, den bis jetzt 138.000 andere unterzeichnet haben, in meinen Augen ganz etwas anderes darstellt. Es ist nicht das illusorisch-gewaltfreie Pazifismusgeschwafel. Weshalb ich viele aufgeregte Äußerungen in den sozialen Medien auch nicht verstehe, geschweige denn unterstütze.
Es ist für mich vielmehr das Ergebnis davon, Dinge nicht zu Ende zu denken oder bestimmte Informationen nicht zu haben.

Deshalb gehe ich einzelne Aussagen einmal durch.

Auszüge und Grundlagen

„Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
wir begrüßen, dass Sie bisher so genau die Risiken bedacht hatten: das Risiko der Ausbreitung des Krieges innerhalb der Ukraine; das Risiko einer Ausweitung auf ganz Europa; ja, das Risiko eines 3. Weltkrieges.“

Diese Aufzählung impliziert, dass diese befürchteten Ereignisse durch Einzelentscheidungen auf deutscher Seite zu verhindern währen. Das sind sie meiner Meinung nach nicht.

Russland möchte alle russischen Völker, also Weißrussland (Belarus), Kleinrussland (Ukraine) und Russland unter einer gemeinsamen Ägide unter der Führung Russlands vereinen.
Das muss es jetzt tun. Denn die Weltordnung ist im Umbruch. Weg von den Blöcken der Sowjetunion und NATO, hin nach Asien. Alleine in China und Indien leben jeweils mehr Menschen als in Nordamerika und Europa zusammen. Und jeweils deutlich mehr, als die NATO-Staaten zusammen Einwohner haben. Ein roter Drache und ein goldener Buddha erwachen gerade erst. Vor Ende dieses Jahrhunderts wird China die USA als Weltführung aufgeholt oder wahrscheinlicher abgelöst haben.

Russland ist seit dem Zerfall der Sowjetunion keine Weltmacht mehr. Die russische Gesellschaft außerhalb der Großstädte ist im vergangenen Jahrhundert stehen geblieben, es gibt eine starke Verarmung und einen gesellschaftlichen Verfall.
In Russland leben weniger Menschen als in Deutschland und Frankreich zusammen. Weniger als in Nigeria, Indonesien, Brasilien oder Bangladesch. Das deutsche Bruttoinlandsprodukt beträgt mehr als das 20-fache des russischen. Der dahergelaufene, gemeine Deutsche erwirtschaftet fast vier Mal so viel wie der Russen. Wir haben Cola, Russland hat Kwass. Aus Brot.

Russland ist ein Riese mit einem Kinderkopf. Das einzige internationale Machtinstrument Russlands sind die sowjetischen Atombomben, auf denen es sitzt. Das Interesse an fossilen Energieträgern schwindet.
Militärexperten prognostizieren seit spätestens 2008, dass Russland seine Bestrebungen gewaltsam umsetzen wird. Weil jetzt seine letzte Chance ist, sich einen Platz am Pokertisch der Weltmächte der kommenden Jahrzehnte zu sichern.

Zudem widerstreben der diktatorischen Führung jegliche demokratischen Ansätze. Doch genau das hat die Ukraine 2014 gewagt. Durch den Euromaidan hat sie einen Demokratisierungsprozess in Gang gesetzt, der sie Schritt für Schritt weiter von Russland entfernt. Was Russland als „Putsch“ propagiert.

Darauf hat Russland sofort reagiert. Es hat die Krim annektiert. Der Grund dafür dürfte eher an dem Industriestandort mit seinen Werften, dem Zugang zum Schwarzen Meer und der Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol sein. Weniger das Argument, dass die Krim eigentlich russisch sei und dort 80 Prozent Russen leben.
Darüber hinaus ist inzwischen Nachgewiesen, dass Russland die selbsternannten „Volksrepubliken“ im Donbass tatkräftig und direkt unterstützt hat. Ohne Russland hätte es im Donbass nie einen Bürgerkrieg gegeben. Falls die Geschichtsforschung ihn zukünftig überhaupt so nennen wird.

Es ist völlig unerheblich, in welche Argumente das politisch gehüllt wird. Entnazifizierung, Verhinderung eines Genozids… Es sind alles austauschbare Floskeln aus der Propagandamaschinerie.
Selbst die so oft zitierten Sicherheitsbedenken bei einer Annäherung an die NATO sind bei genauerer Betrachtung Schall und Rauch. Denn die Sowjetunion hat über Jahrzehnte hinweg eine direkte Grenze zur NATO gehabt. Und der Unterschied, wie lange eine Rakete von Kiew, Ankara oder von der baltischen See bis nach Moskau braucht, ist doch eher marginal.

Russland wird keine demokratische, westlich orientierte Ukraine an seiner Grenze akzeptieren, die nicht unter dem Einfluss Russlands steht. Ziel ist es, die Ukraine zu unterwerfen, nichts weniger.

Der Krieg wird sich über die Ukraine ausbreiten.
Der Grund, warum das nicht umfassender passiert, ist nicht, dass Russland nur partielle Interessen hätte. Sondern dass es schlicht nicht mehr kann. Russland hat vor aller Welt die Kampfhosen runtergelassen. Und was es zeigt, ist nicht einmal der realistischen Größe Russlands angemessen.
Die Einnahme Kiews ist fürs erste gescheitert und derzeit stockt die von den Medien als „Großoffensive“ deklarierte neue Strategie im Osten.
Nichts, absolut gar nichts, was Europa, die USA, die NATO oder andere tun oder lassen, kann eine Ausbreitung auf die gesamte Ukraine verhindern. Wenn die Russen können, werden sie es tun. Sie haben es versucht, vom ersten Tag an. Russland hat drei Fronten eröffnet.

Und nur unter diesem Aspekt muss man die Gefahr einer „Ausweitung auf ganz Europa; ja, das Risiko eines 3. Weltkrieges“ betrachten.
Wobei ich nicht verstehe, warum man das überhaupt trennt. Jeglicher Angriff auf Europa hätte sofort den Bündnisfall zur Folge. An den Grenzen und in Alarmbereitschaft sind locker so viele NATO-Truppen, wie Russland in der Ukraine im Einsatz hat. Knallt es in Europa, knallt es auch im Pazifik.
Und das weiß Russland. Putin weiß sehr genau, wo die rote Linie verläuft. Und dass ein Überschreiten das Ende Russlands zur Folge hätte.

Nur weil Russland sich die Nummer in der Ukraine ganz offensichtlich anders vorgestellt hat, bedeutet das nicht, dass es strunz naiv ist.
Nachdem Europa sich in einem Kraftakt überwunden hat, nach Krim und Donbass die russischen Finger zu tätscheln, war es naheliegend zu glauben, dass es sich wieder so verhalten wird. Die Sanktionen werden ein Schock für die Putin-Clique gewesen sein.

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