Kann die Ukraine gewinnen?

Eine Prognose mit Erklärung

Kommen wir also zurück zu der Frage, ob die Ukraine das gewinnen kann.

Die Ukraine sind die Verteidiger. Sie müssen nur nicht verlieren, dann haben sie gewonnen. Das ist die Weisheit am Ende des Tages.
Irgendwann wird es für Russland zu teuer. Und dann werden sie sich zurückziehen.

Das viralste Video der Bundeswehr ist vermutlich das Interview mit dem General von Anfang April, das inzwischen alleine auf YouTube fast eine Millionen Mal angesehen wurde. Plötzlich erinnert man sich, dass Deutschland ja ein Militär hat. (Man mag es kaum laut sagen: Deutschland hat da echt Erfahrungen und was drauf.)

Bei einem Angriff geht man von einem Verhältnis von 3 zu 1 aus. Bei der Verzögerung steigt das auf das sechsfache. Aber was bedeutet das?

Nehmen wir an, wir haben einen freien Acker an einem Waldrand. Diesen Acker zu verteidigen würde bedeuten, dass der Angreifer uns mindestens um das Dreifache überlegen sein muss. Wir können Minen legen, haben vorher Panzersperren errichtet… Wir müssen nur verhindern, dass er den Acker besetzt. Verteidigen ist immer besser als Angreifen.

Verzögern bedeutet, dass wir uns einfach in den Wald zurückziehen. (Deutsche Soldaten ziehen nicht zurück, sie weichen aus!) Und aus der Deckung des Waldes dann weiter den Angreifer auf dem offenen Feld beschießen. Wir geben den Acker als Territorialbesitz auf und verteidigen ihn aus einer für uns besseren Stellung. Wir sagen einfach „Ja und? Nimm doch den scheiß Acker, Suka Bljad. Präsentiere dich.“

Machen wir das im städtischen Gebiet, also im Häuserkampf, steigt das Verhältnis sogar bis auf das zehnfache. Weil wir ja nur aus irgendeinem Fenster schießen müssen, laufen schnell weg, gehen an ein anderes Fenster, und schießen von da wieder.

Schön zu verstehen ist das mit der Scharfschützenszene in dem Film Full Metal Jacket. Eine ganze Einheit wird aufgehalten. (Panzer fahren übrigens nicht rein, die Russen hätten den Film gucken sollen.) Mehrere Soldaten werden stumpf erschossen. Infanteristen schleichen sich von hinten an. Und es stellt sich heraus: es ist nur eine einzige Frau mit einer Kalaschnikow. Nicht einmal ein richtiger Scharfschütze.

Wenn wir diese ganzen Informationen, diese Grundlagen nun nehmen, dann kann sich jeder vorstellen, was in der Ukraine passiert.
Zumal diese taktischen Zahlen, die nur ein ungefähres Verhältnis abbilden sollen, ja noch kompromittiert sind. Denn als die aufgestellt wurden, gab es noch keine Panzerfaust 3 und keine Javelin. Waffen, die an die Ukraine geliefert wurden.

Das ist genau das, was wir derzeit auf Videos aus der Ukraine sehen. Panzer, die dastehen wie in der Schießbude. Infanteristen (Fußsoldaten), die schnell und beweglich hingehen, feuern und damit russische Panzer „aufmachen“.
Das ist das, was man allgemein gerne als Guerilla-Krieg bezeichnet. Die militärische Bezeichnung ist „asymmetrische Kriegsführung“. Sowas will kein Angreifer.

Und es kommt noch ein weiterer Punkt hinzu. Um an den Anfang zurückzukehren.
Russland will die Ukraine beherrschen. Vielleicht nicht als russisches Territorium einverleiben. Aber kontrollieren.

Alle Analysten – also nicht nur Militärs, sondern auch politische Analysten – sagen: Das können die gar nicht. Dafür haben die nicht die Kapazitäten.

Müsste ich heute eine Prognose abgeben, wäre sie wie folgt:

Die Ukraine erhält weiter Waffenlieferungen aus dem Westen. Russland traut sich nicht, dafür Krieg mit der NATO anzufangen. Es kann aber in der Ukraine auch nicht Fuß fassen. (Deshalb zieht es sich bereits aus Kiew zurück.) „Auf den Osten konzentrieren“ ist meiner Meinung nach das Eingeständnis, dass sie gemerkt haben, dass der Häuserkampf sehr teuer wird. Und deshalb hält sich Mariupol so lange. Vermutlich Charkiv auch.
Inzwischen bin ich auch sicher, Putin wurde falsch beraten.

Trotzdem kann Moskau, und damit meine ich die ganze Führung, sich nicht erlauben zu „verlieren“. Sie werden versuchen den Korridor zwischen der Krim und dem Donbass zu schließen.
Ein Propaganda-Argument der Russen war ja, den Donbass zu „befreien“ und einen „Genozid“ zu verhindern. Deshalb werden sie sich das als militärisches Ziel setzen. Und selbst wenn sie den Krieg „verlieren“, werden sie das halten wollen und innenpolitisch müssen.

Aus dieser Gemengelage heraus bin ich sicher, Russland wird dort weiter Soldaten und Material verheizen. Und die Ukraine wird erbittert Widerstand leisten. Vermutlich wird aus ukrainischer Sicht auch die Annektion der Krim irgendwann wieder auf die Tagesordnung kommen. Sie werden eine Einnahme des Donbass durch Russland niemals akzeptieren.

Der Krieg wird Jahre dauern, wenn er nicht am Verhandlungstisch gelöst wird. Dafür sehe ich in den nächsten Monaten keine Chance. Zumindest nicht, bis Putin stirbt.
Es ist nicht mit einem Einlenken Russlands zu rechnen, geschweige denn mit der Aufgabe der Ukraine. Und noch weniger des Donbass.

Eher zu rechnen ist mit der so genannten Ermüdung. Also wie die USA in Vietnam oder Russland in Afghanistan. Ich würde eher damit rechnen, dass Russland sich irgendwann zurückzieht. Unter propagandistischer Wahrung des Gesichts. Indem sie sagen können, sie hätten die Ukraine „entnazifiziert“, den angeblichen Genozid verhindert oder den Donbass „befreit“.

Dass Russland mit der Entwicklung nicht zufrieden sein kann und sicher auch nicht damit gerechnet hat, ist einen anderen Artikel wert. Bemerkenswert ist aber, dass im Kreml inzwischen Berater ausgetauscht wurden, einer sich in die Türkei abgesetzt hat und aktuell die Militärführung ersetzt wurde.

In diesem Kontext muss man auch die Sanktionen sehen. Russland hat mit der Invasion auch einen Wirtschaftskrieg begonnen, den es nicht gewinnen kann. Auch diese Auswirkungen werden sich erst nach und nach bemerkbar machen.

Doch selbst wenn Russland sich morgen aus der Ukraine zurückziehen sollte – was es nicht wird und die Elite in Moskau nicht kann – wird dieser Krieg langfristige Folgen haben. Die jetzt noch gar nicht so wirklich absehbar sind. Russland hat sich weitestgehend isoliert. Verblieben sind zwar u.a. Indien und China, die große Märkte haben und die zukünftige Weltordnung maßgeblich bestimmen werden. Die aber nach wie vor der Marktmacht Europas und der USA unterworfen sind.

Gerade an Europa führt derzeit wirtschaftlich nichts vorbei, der chinesische Boom wird von Europa bezahlt. Und das wissen auch die Chinesen. Und das sollten auch die einkalkulieren, die gegen eine Europäische Union wettern.

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