Die Gewissenlosigkeit des neuen Pazifismus

Ein tiefer Schmerz

Ich wurde nicht deshalb Soldat, sondern trotz dessen

Aufgewachsen mit dieser Musik, mit dieser bildlichen Ästhetik und mit diesem Selbstverständnis habe ich mich entschlossen selber Soldat zu werden.
Alle männlichen Vorfahren meiner Familie hatten gedient. Waffengeilheit ist mir immer fremd geblieben. Auch wenn ein erhobenes MG mit einem Hunderter-Gurt über der Schulter ein unbestreitbares Machtgefühl und Coolness-Faktor gibt. Aber wenn man das Ding erst einmal 20 Kilometer geschleppt hat, erschließt sich, dass man eben doch in keinem Hollywood Film ist. Es gibt kaum einen besseren Lehrer als blutende Blasen. Und wenn man erst einmal ein aufgepilztes Projektil gesehen hat, weiß man, was das mit dem Körper von Menschen macht. Die Sterben nicht so klinisch rein wie im Film. Sie scheißen sich ein, sie schreien, sie sehen dabei zu wie das Leben aus ihren Adern rinnt. Man bekommt eine Realität für die Bedingungslosigkeit und für die Bedeutungslosigkeit des eigenen Lebens, der eigenen Freiheit und des eigenen Willens im Krieg.

Inzwischen habe ich gelernt mir zu verzeihen, dass ich zumindest diese Lernerfahrungen vielen Menschen gönne.
Jenen, die bei einem Kaffee Latte bei ihrem Stamminder mit Dutt über Pazifismus diskutieren. Jenen, die meinen, die Ukraine sollte sich nicht so lange zieren. Jenen, die sich nach langer Zeit des Friedens ihrer Wohlstandsverwahrlosung hingegeben haben und es nicht einmal mehr bemerken.
Ich kann es nachvollziehen. Ich kann es verstehen. Aber ich kann mir verzeihen kein Verständnis haben zu wollen.

Ich bin nicht Soldat geworden, weil ich Krieg geil finde. Sondern weil ich mein Scherflein beitragen wollte, um etwas dagegen zu tun.
Der Abend, nachdem ich die Luftbilder der Gräber von Srebrenica vermessen habe, ist mir tief im Gedächtnis verhaften geblieben. Der einsamste Abend meines Lebens. Und ich wusste wieder, warum ich Soldat geworden war.

Old habits die hard

Durch die Wahrnehmung des Vietnamkrieges und des Protestes von Kindesbeinen an habe ich nicht die USA als Täter gesehen. Es ist niemals ehrenhaft, es sich leicht zu machen. Sondern die damalige US-amerikanische Regierung. Das eigene Volk, diese jungen Männer, die in den acht Uhr Nachrichten unter Feuer geduckt auf Bahren zu den Helikoptern geschleppt wurden, waren auch zu Opfern geworden. Und die Bell UH-1 zum Sinnbild des Krieges, deren Geräusch des „Teppichklopfers“ ich bis heute von weitem erkenne. Verheizt für geopolitische Machtinteressen und dafür als Baby-Killer beschimpft.

Das bekannt gewordene Video des ukrainischen
Kriegsgefangenen, der vor laufender
Handy Kamera erschossen wird.

Und nun stellen sich viele in die Tradition dieser Friedensbewegung. Sie stehen vor dem Brandenburger Tor und schwenken Regenbogenfahnen und die Friedenstaube des finnischen Grafikers Mika Launis.
Dass so gut wie keine russischen Flaggen zu sehen waren, wird als Zeichen der Neutralität umgedeutet und vermarktet. Dabei waren sie zuvor einfach von der Polizei verboten worden. Auch das Verbot der Z-Symbole, Zeichen des russischen Überfalls auf die Ukraine, hielt einige nicht davon ab eine Georgsschleife zu tragen.

Nun hat sich etwas fundamental gewandelt. Plötzlich sitzen wir auf der anderen Seite des Tisches.
Nicht die USA sind der Aggressor. Die sich über Jahrzehnte so gut und nicht unberechtigt für dieses Bild angeboten haben. Es ist Russland. Es ist aus imperialistischen und geostrategischen Interessen in ein anderes Land einmarschiert.
Das hat es auch schon häufig zuvor getan. Aber die Verzerrung, die bei den USA funktioniert, funktioniert auch bei Russland. Offenbar müssen manche den einen zum Guten erklären, um den anderen böse sein lassen zu können.

Pazifisten, die Nationalismus annehmbar finden

Wie Deutschland nach dem Ende des Kaiserreichs und dem verlorenen Krieg zielsicher in den Nationalismus und die Versprechungen der gewissenlosen Mörderbanden gesteuert ist, ist Russland nach dem Verlust der Vormachtstellung der Sowjetunion zielsicher in die Diktatur des hyperkorrupten Putinismus gesteuert.

Und diese selbsternannten Pazifisten weigern sich schlicht das zu sehen. Waren sie vorher Feinde des deutschen oder amerikanischen Nationalismus, finden sie nun plötzlich russischen Nationalismus völlig annehmbar. Oder sie bemühen sich, ihn nicht zur Kenntnis nehmen. Weil sie in dem alten Weltbild des bösen Westen und des unterdrückten, friedlichen Ostens hängen geblieben sind. Und bleiben wollen.
Und um dieses Bild aufrecht erhalten zu können, werden alle Mechanismen von Verschwörungsmythen, Populismus und Propaganda genutzt. Um sich die Welt erklärbar zu halten.

Der Westen, die NATO, die USA und die EU hätten Russland dazu gezwungen, in die Ukraine einzumarschieren. So die Losung. Dass Russland der Ukraine längst das 1991 anerkannte Existenzrecht wieder abgesprochen hat, wird ignoriert.
Diese Menschen entblöden sich nicht einmal zu argumentieren, die Ukraine solle sich nicht so sehr wehren. Dann wäre auch alles schnell vorbei.
Doch sie müssen sich immer wieder gegenseitig rückversichern, wie viele sie doch eigentlich sind. Angeblich. Zweifel kann tief sitzen.

Dass nun eine Kommunistin wie Wagenknecht, die noch in den letzten Zügen der Diktatur der SED beigetreten ist und bis 2010 in der Leitung der linksextremistischen Kommunistischen Plattform KPF war, als Symbolfigur auch von Rechtsextremisten und -populisten gefeiert wird, scheint niemanden zu stören.
Hauptsache gegen den bösen Westen, da kann man dann auch schon mal mitlaufen. Mit wem ist ja egal.

Süßes Kind, mit der Zeit wirst du die Linie sehen.

Und dann stelle ich mir eine Demonstration 1968 vor. Auf der Friedensfahnen geschwenkt werden. Auf der Aktivisten allen Pathos in ihre Reden legen. Und fordern, man solle Nordvietnam keine Waffen liefern. Dann wäre auch alles schnell vorbei. Schließlich hätte die Sowjetunion die USA ja gezwungen, in Vietnam einzumarschieren. Und das Sterben durch das Napalm und die Zerstörung durch Agent Orange würde schneller beendet, wenn sie nur aufhören würden sich zu wehren.

Das, und nichts anderes, höre ich.
Und dann muss ich mich als Kriegstreiber bezeichnen lassen. Weil ich gegen die Unterdrückung bin. Weil ich dagegen bin, dass ein Staat gewaltsam Grenzen verschiebt. Weil ich den ukrainischen Verteidigern genau das gleiche Recht auf Selbstverteidigung zubillige, wie den Vietnamesen. Weil ich gegen den Aggressor bin, egal wie er heißt.

Diese Kundgebung, diese Äußerungen der Demonstrierenden, diese Argumente, die Postings der russischen Trolle schlagen einem eine Erkenntnis brutal ins Gesicht:
Es ging diesen Menschen nie darum, gegen ein unterdrückerisches, kriegerisches System aufzustehen. Es ging gegen die USA. Es ging gegen den Westen. Völlig egal, wie der sich verhält.
Wenn andere das tun, ist es völlig in Ordnung.

Der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Carlo Masala verwendete in der Sendung Maischberger den Begriff des Nationalpazifismus. Und erntete einen Shitstorm jener Pazifisten von Russlands Gnaden.
Gewaltlosigkeit fordernder Pazifismus funktioniert nur, wenn man auf der Seite des Aggressors steht. Dort ist es pazifistisch, das Senken der Waffen zu fordern. Doch fordert man das vom Angegriffenen, ist das lediglich die Parteinahme für den Aggressor. Die sich unter dem himmelblauen Mantel des Pazifismus versteckt, auf den Friedenstauben fliegen. Es ist der feige versteckte Aufruf zur Unterwerfung.
„Russland ist in die Ukraine einmarschiert, aber…“ ist der neue Archetyp der Relativierung geworden.

Die Unverfrorenheit, mit der das verteidigt wird, lässt fassungslos zurück. Wut und Sprachlosigkeit, ausgelöst durch den tiefen und schwer erträglichen Schmerz des Missbrauchs des Pazifismus. An den ich mein Leben lang geglaubt habe.

Süßes Kind, mit der Zeit wirst du die Linie sehen.
Die Linie, die gezeichnet wurde zwischen Gut und Böse.

Sweet child in time
You’ll see the line
The line that’s drawn between
Good and bad
Deep Purple, 1969

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