Die Gewissenlosigkeit des neuen Pazifismus

Ein tiefer Schmerz

Im Radio lief Deep Purples Child in Time. In heute nicht mehr sendbaren zehn Minuten sang Ian Gillan den Schmerz der Unterdrückung ekstatisch ins Mikrofon. Sicher einer der wichtigsten Rock Songs, die jemals geschrieben wurden. Später sollte er zur Hymne der osteuropäischen Befreiung von der kommunistischen Diktatur werden. Obwohl es ein Protest gegen den Krieg in Vietnam war.

Es lief auch Bob Dylans Blowing In The Wind, aber meist das Cover von Peter Paul and Mary. Das Paint It Black der Stones stampfte aus dem kleinen Ding, das man noch Musikrekorder nannte. Weil man damit Lieder aus dem Radio auf Kassette bannen konnte. Und angespannt mit dem Finger auf der Stopp-Taste hoffte, dass der Radiomoderator nicht ins Ende quatschen würde.

Creedence Clearwater Revival solidarisierten sich mit Fortuante Son mit den jungen Männern der Unterschicht, die in den Krieg geschickt wurden. „Ich gehöre nicht zu denen, die die Flagge schwingen. Denn ich bin keines Senators Sohn. Ich bin keiner der Glücklichen.“
Wofür die Soldaten nach ihrer Heimkehr bespuckt wurden. Und ihre Orden aus Protest über den Zaun des Weißen Hauses warfen.
Das Durchschnittsalter der Gefallenen US-amerikanischen Soldaten in Vietnam war 19.

Ich wurde während des Vietnam Kriegs geboren.

Der Bruch ist nicht zu vermitteln

Natürlich war ich zu jung. Doch das alles wurde eingewoben in diesen persönlichen Flickenteppich, aus dem sich später die Persönlichkeit von Menschen bildet. Keine genaue Erinnerung, Daten und Orte verschwimmen. Es ergibt ein weißes Rauschen der Reminiszenz.

Die Aufnahmen, in denen der Polizeichef General Nguyễn Ngọc Loan dem Vietcong Nguyễn Văn Lém ohne Vorwarnung vor laufenden Kameras in die Schläfe schießt und dieser leblos zusammensackt. Das Bild der kleinen Phan Thị Kim Phúc, die alleine, nackt, weinend und völlig verbrannt dem Fotographen entgegen läuft. Aus dem kleinen Örtchen Trảng Bàng fliehend, das die Amerikaner mit einem Teppich aus Napalm überzogen hatten. Der Photograph Nick Út brachte sie in ein Krankenhaus, das Bild erhielt den Pulitzer Preis.

Es ist heute schwer zu vermitteln, welcher Umbruch, welche Bewegung damals weltweit stattgefunden hatte. Auch in Europa protestierten Hunderttausende auf den Straßen.
Als Studenten der Kent State University gegen den Krieg demonstrierten, schoss die Nationalgarde von Ohio auf die Unbewaffneten. Vier junge Menschen verloren ihr Leben an diesem sonnigen Tag.

Später kam nicht nur heraus, dass unmittelbare Mitarbeiter von Präsident Nixon die politische Gegenseite hatten ausspionieren lassen. Bekannt als Watergate Skandal. Daniel „Dan“ Ellsberg, Mitarbeiter des Think Tanks RAND Corporation, veröffentlichte illegal die „Pentagon Papers“. Aus denen hervorging, wie die Nachrichtendienste die öffentliche Meinung beeinflussten und wie Regierung das eigene Volk belogen hatte. Sowohl über illegale Aktivitäten, als auch über die Aussichten den Krieg zu gewinnen.

Es wurden mehr Bomben auf Vietnam geworfen, als im gesamten Zweiten Weltkrieg zusammen.
Das alles wurde vor allem von der New York Times und der Washington Post veröffentlicht. Medien, die sich trotz des jahrzehntelangen Kampfes für die Pressefreiheit heute als regierungshörige Mainstreammedien bezeichnen lassen müssen.

Ein Jahrzehnt der Aufarbeitung

Erst kam der Pop, dann die Neue Deutsche Welle. Auch dafür war ich noch zu jung. Obwohl ich die ersten Abende mit dem Finger auf der Stopp-Taste verbrachte.
Und dann begleitete die große Welle der Vietnam Retrospektive meine Pubertät. Die durch die Hölle gehen, Platoon, Apokalypse Now.

Im Zweiten Weltkrieg wusste jeder worum es ging. Aber niemand wusste, wie es tatsächlich an der Front aussah. Beim Vietnam Krieg wusste niemand mehr, worum es eigentlich ging. Aber die Bilder von der Front waren jeden Abend in den Nachrichten zu sehen.
Und nun zeigte Stanley Kubrick in seinem Meisterwerk Full Metal Jacket die bedingungslose Abrichtung junger Männer zu „Maschinen des Todes“ und anschließend wie sinnlos und beliebig sie sterben.

Plötzlich liefen die alten Protestsongs wieder im Radio. Und Paul Hardcastle steuerte den zeitgemäßen Elektro Sound dazu bei. Im Fernsehen lief zu etwas späterer Sendezeit „NAM – Dienst in Vietnam“.

Zeit des Vergessens

Dass Nordvietnam und der Vietcong den Krieg angefangen hatten, war zu dieser Zeit schon längst vergessen. Und dass die Sowjetunion und die Volksrepublik China die nordvietnamesischen Kommunisten und die Guerilla unterstützt hatten, war nie wirklich thematisiert worden.
Das macht nichts besser oder schlechter. Es ist im Narrativ der bösen USA schlicht verloren gegangen.

Der Gipfel der absurden Verzerrung war, als der spätere Präsident Trump bei seinen Wahlkampfauftritten „Born in the USA“ von Bruce Springsteen spielen ließ. Und seine nationalistischen Anhänger in Sprechchören „America First“ skandierten und mitsangen. Einen Song, der anprangert, wie beschissen die USA mit ihren Veteranen umgegangen waren.

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