„Der Westen hat der Ukraine Verhandlungen verboten“

Brandolinis Gesetz an einem Beispiel

Es gibt eine ganze Reihe von Friedensbemühungen und Angeboten, die Russland gemacht wurden. Sowohl vor dem Überfall Russlands, als auch danach.

Das wird in der Öffentlichkeit häufig nicht wahrgenommen bzw. von Propagandisten und Populisten ignoriert. Beispielsweise hat die Ukraine mehrfach angeboten, dass sie nicht der NATO beitritt. Auch vor dem Überfall.
Schon im November hatte ich dazu eine (unvollständige) Liste veröffentlicht.

Häufig kommt dann das Argument, die USA (die NATO, der Westen) hätten der Ukraine verboten, solche Verhandlungen zu führen. Was schlicht absurd ist, denn das Istanbuler Kommuniqué ist an Russland ergangen und Russland hat abgelehnt.

Also ist doch fraglich, woher solche kruden Behauptungen kommen. Die selbstverständlich nie irgendwie belegt werden.
Eine der Quellen habe ich ausfindig gemacht.

Gruß von den Genossen

Die schweizerische Seite „Zeitgeschehen im Fokus“ beruft sich darauf, sich für die Vielfalt der Meinungsabbildung einzusetzen.
Als Herausgeberin steht im Impressum (das deutschem Recht nicht genügen würde) Dr. phil. Henriette Hanke Güttinger. Die schon einmal eine Buchbesprechung von Jürgen Todenhöfers Buch veröffentlicht hat. Auf der „Neue Rheinische Zeitung Online“, was lustigerweise ohne das „Online“ der Name der kölnischen Zeitung von Marx und Engels war.

Auf dieser „Zeitgeschehen“ Seite kommen viele zu Wort, die nicht so ganz mit der Linie der NATO einverstanden sind.
Auf dieser Plattform ist nun auch ein Interview von Thomas Kaiser erschienen. Mit dem ehemaligen General Kujat. Der bekanntermaßen sehr russlandfreundlich argumentiert.
Daran ist auffällig, dass das Interview mit keinem Zeitstempel versehen ist. Und dass ein Bild von Kujat von wiki.commons genommen wurde. Man sollte denken, wenn man ein Interview mit so jemandem führt, dass man dann auch ein Pressefoto bekommt.

General a. D. Kujat

Quasi zeitgleich ist das Interview auch auf der Seite „Overton Magazin“ der Westend Verlag GmbH in Frankfurt erschienen. Und dieser Verlag zeichnet unter anderem für das neuste Buch von Oskar Lafontaine, mehrere Bücher von Ulrike Guérot, ein Buch von Rainer Mausfeld und ein Buch von Daniele Ganser verantwortlich. Offenbar mag man Kontroverses, das bringt Auflage.
Dass der Interviewer Kaiser unter anderem Vokabeln wie „Mainstream Medien“ nutzt, überrascht dann auch nicht mehr.

Auf seinem Twitter Account mit 1700 Followern bezeichnet das Overton Magazin sich als „Stimme gegen Debatteneinengung, Cancel Culture und strikten Moralismus.“

Wer hats gesagt?

In dem Interview gab Kujat eine Antwort, die ich hier zum Verständnis wiedergeben muss.

„Als Putin am 21. September die Teilmobilmachung verkündete, erwähnte er zum ersten Mal öffentlich, dass die Ukraine in den Istanbul-Verhandlungen im März 2022 positiv auf russische Vorschläge reagiert habe. «Aber», sagte er wörtlich, «eine friedliche Lösung passte dem Westen nicht, deshalb hat er Kiew tatsächlich befohlen, alle Vereinbarungen zunichte zu machen.»“

Auch in Kommentaren auf der Facebook Fanpage wurde bereits behauptet, das wäre bewiesen. Zwei Kommentatoren behaupteten, Kujat hätte gesagt, dass die USA der Ukraine Verhandlungen verboten hätten. Sogar mit Verlinkung dieses Interviews, die natürlich gelöscht wurde. Einfach weil gar keine Drittlinks zugelassen werden.

Doch das steht da gar nicht.
Dort zitiert Kujat Putin. Woher Kujat das wiederum weiß, sagt er nicht. Mit Putin persönlich wird er nicht gesprochen haben.

Nochmal zum Verständnis und Chronologisch korrekt:

  • Am 29. März 2022 finden Vorverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland in Istanbul statt. Die Ukraine macht weitreichende Angebote, u.a. den Verzicht auf einen NATO-Beitritt und eine Aussetzung der Krim-Frage für 15 Jahre. Dieses Angebot wurde Russland vorgelegt, es wird als Istanbuler Kommuniqué bezeichnet.
  • Am 30. März 2022 lehnt Russland ein erstes Angebot offiziell ab. Es folgen weitere Gesprächsrunden bis mindestens Juli, zum Schluss über Getreideexporte.
  • Am 21. September 2022, fast ein halbes Jahr später, behauptet Putin anlässlich der „Teilmobilmachung“, „der Westen“ habe der Ukraine „befohlen“, alle Vereinbarungen „zunichte zu machen“, die Russland unterbreitet habe und auf welche die Ukraine angeblich positiv reagiert habe.
  • Erst im November 2022 berichtet die Washington Post, die Ukraine wolle nicht mehr verhandeln. Präsident Biden drängt die Ukraine sogar, weiter an Gesprächen teilzunehmen.
  • Am 18. Januar 2023 bzw. 20. Januar 2023 erscheint ein Interview mit dem bekanntermaßen Russlandfreundlichen General a. D. Kujat auf zwei Internetseiten. Dort zitiert Kujat wiederum Putin und nimmt dessen Behauptung als wahr an.
  • Wenige Tage später Kommentieren Nutzer auf meiner Fanpage, Kujat hätte das nachgewiesen und damit sei das ein Fakt.

An dieser Stelle wird Brandolinis Gesetz verständlich. Es wird auch Bullshit-Asymmetrie-Prinzip genannt. Denn der italienische Informatiker formulierte 2013: „Das Widerlegen von Schwachsinn erfordert eine Größenordnung mehr Energie als dessen Produktion.“

Was bedeutet, während ich diesen Text schreibe, haben andere schon wieder weit mehr Bullshit produziert. Oder den gleichen Bullshit verbreitet. Da Bullshit in einem Tweet öfter rezipiert wird, als ein Beitrag auf einem Blog. Weshalb in den Köpfen vieler nur hängenbleiben wird, dass „der Westen“ der Ukraine Verhandlungen verboten hätte.

Und das ist die sehr reale Gefahr, die von Social Media ausgeht.

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