Das ist doch alles keine Demokratie!

Einnorden der Erwartungshaltung

Demokratie soll so viel sein. Und so vieles soll demokratisch sein.
Immer wieder taucht in Kommentarspalten das Argument auf, Deutschland sei nicht demokratisch. Vor allem, wenn Beiträge gelöscht werden. Schließlich hätten wir Meinungsfreiheit, was auch so ein Thema ist.

Die Demokratie hat nie behauptet, alle Meinungen seien gleich wichtig. Das nimmt Demokratie gar nicht für sich in Anspruch. Demokratie ist kein Stuhlkreis der Volkshochschulgruppe Tanzpädagogik. (Mittwochs, Raum 04, nach „Modellieren mit Mett“) Trotzdem erwarten das einige Menschen.
Bei vielen scheint sich ein diffuses Bild von Demokratie verfestigt zu haben. Ein Gesellschaftssystem, in dem jeder gehört und berücksichtigt wird.

Das ist nicht erstrebenswert. Denn das würde ja auch bedeuten, dass auch die Stimmen derer wichtig sind, die Demokratie doof finden.
Das nennt man dann das Toleranz-Paradoxon. Das hat der Philosoph Karl Popper 1945 beschrieben: Ist eine tolerante Macht gegenüber Intoleranten tolerant, erlaubt sie ihnen, die Toleranz abzuschaffen. Sie muss also immer zu einem Teil intolerant bleiben, um sich gegen ihre Feinde zu wehren.
Man kann höchstens versuchen, möglichst viele mitzunehmen. Und darin sind wir schon echt ziemlich gut.

Diese Überlegung zeigt schon, dass Demokratie nicht alle Menschen gleich macht. Aber das hat sie auch nie behauptet. Jede Demokratie braucht Regeln, ob es einem nun passt, oder nicht.
Wagen wir einen kurzen Exkurs zu den Erfindern der Demokratie ins alte Athen.

In vielen griechischen Stadtstaaten gab es schon ein Mitspracherecht des Volkes. Trotzdem gab es in vielen die Tyrannis, welche die Macht ausübten. Erst als die Römer ihre Könige davongejagt hatten (510 v. Chr.), wurden daraus das Bild der bösen Tyrannen.

Zur gleichen Zeit begann in Athen ein Prozess. Die Demokratie entstand, so wie wir sie heute verstehen. Der ganze Prozess dauerte fast 200 Jahre. Es war also eigentlich keine „Erfindung“, sondern ein langes Ringen mit dem Adel. Und friedlich war es auch nicht, es gab eigentlich dauerhaft Kriege.

In seiner Blüte hatte Athen etwa 30.000 Einwohner, soviel wie heute eine Kleinstadt. Das Umland Attika hatte etwa 300.000. Jeder Bürger konnte in ein Amt gewählt werden. Bestimmte Ämter mussten sogar angenommen werden. Und es gab die Volksversammlung, bei der über wichtige Entscheidungen abgestimmt wurde. Die aber weiter von den Eliten beeinflusst wurden. Beispielsweise über den Bau der Tempel oder den nächsten Krieg, am liebsten gegen unterdrückte Städte. Von wohlhabenden und Adeligen wurde erwartet, dass sie Militärdienst leisteten. Das konnten nur die, denn jeder musste seine Ausrüstung selber bezahlen.
Die Mitbestimmung war also verbunden mit Pflichten.

Aber konnte wirklich jeder Bürger daran teilhaben?
Zunächst schieden alle Frauen aus. Was bereits etwa der Hälfte entspricht, die höhere Sterblichkeit durch Geburten nicht einberechnet. Und Sklaven fielen heraus. Was etwa 20 Prozent der Gesellschaft ausmachte. Es mussten auch Bürger von Ehre sein. Was bedeutet, dass Verschuldete oder Vorbestrafte ebenfalls nicht teilnehmen durften. Historiker gehen davon aus, dass höchstens 40 Prozent der Bevölkerung überhaupt das Recht hatten, an der Demokratie teilzuhaben.

Bürger, die bis zu 70 Kilometer vom Versammlungsplatz (Pnyx) entfernt wohnten, waren locker drei Tage unterwegs. Deshalb galt eine Volksversammlung schon als vollzählig, wenn 6000 Bürger anwesend waren. Also nur ein Fünftel der Stadtbewohner und ein Fünfzigstel aller Athener.

Bei einer Kleinstadt ist das noch machbar. Bei Millionen von Bürgern nicht mehr. Deshalb entwickelten sich andere Formen. Die Bürger wählten nur noch Vertreter, die in einem Parlament in ihrem Sinne abstimmen sollten. Wie es sich parallel in Rom entwickelte.

In einigen kleinen Gesellschaften gab es die direkte Demokratie. Beispielsweise bei Germanen, die sich regelmäßig zum Thing trafen, der Versammlung. Das erkennt man noch heute an Städtenamen wie Thüngen, Dingen oder Dingstede. Nicht zu verwechseln mit der Endung *ing oder *ingen. Die sind ursprünglich auf Personen zurückzuführen. Sigmaringen wird sicher irgendwann mal einem Sigmar gehört haben. Und Reading in England vielleicht einem Angelsachsen namens Rædwald.

In anderen Gesellschaften hielt sich der Adel, dort wurde die Herrschaft vererbt. Das ist seit der neolithischen Revolution – also quasi der Steinzeit – nachgewiesen. Denen war teilweise sogar egal, wo sie herrschten. Richard Löwenherz (1189) sprach nicht einmal Englisch, so wie viele seiner normannischen Vorgänger (1044). Und Karl der Große (800) sprach vermutlich mehr Latein als altdeutsch. Von Otto dem Großen ist überliefert, dass er so stark sächselte (norddeutsch, nicht das heutige Sächsisch), dass er bei der Universalsynode von Ingelheim bei Mainz (948) einen Dolmetscher brauchte.

Wenn man bei Demokratie von einer Volksherrschaft spricht, meint das also die Abgrenzung zu einer Adelskaste, in der Macht vererbt oder durch Krieg gewonnen wird. Und die nicht zum Volk gehörte.
Es bedeutet nicht, dass das Volk direkt Entscheidungen trifft, wie man es sich so im alten Athen vorstellt.

Auch das immer wieder gebrachte Argument der direkten Demokratie wie in der Schweiz ist höchstens halb richtig. Denn dort gibt es zwar Volksabstimmungen. Diese unterliegen aber strengen Regularien und können nur mit Fragen gestellt werden, die mit Ja oder Nein beantwortet werden können.
Und was erschreckend viele nicht wissen: Das haben wir in Deutschland auch. Aber nur bis auf die Landesebene. (Alleine Nordrhein-Westfalen hat mehr als doppelt so viele Einwohner wie die Schweiz.) Wer sich also beispielsweise in Bayern über die Finanzierung der Schulen oder marode Straßen aufregt, könnte das durch eine Bürgerbefragung ändern.

Wenn jemand in Kommentarspalten herumpoltert, wir würden nicht in einer Demokratie leben, der hat Demokratie ganz einfach nicht verstanden. Der hat eine Erwartungshaltung an Demokratie, welche die Arme gar nicht erfüllen kann und will. Er versucht sein Gefühl der Hilflosigkeit, nicht gehört zu werden, irgendwie zu argumentieren. Anstatt sich selber einzubringen und sich demokratisch Gehör zu verschaffen.

Und Social Media ist nun wirklich so gar nicht demokratisch. Wer das erbost raushaut, hat eine Wahrheit erkannt, die nun wirklich zum Einmaleins der Medienkompetenz des vergangenen Jahrzehnts gehören sollte.

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