Es gibt im Internetz keine Meinungsfreiheit

Die Menscheit ist nicht bereit für Netz 2.0

Wann immer sich jemand auf Social Media ungerecht behandelt fühl, wird die Wunderwaffe Meinungsfreiheit gezückt. Es scheint fast so, als hätte irgendwann mal ein Rechtspopulist Werbung für Artikel 5 gemacht.
Provokante Gegenthese: Es gibt im Internet keine Meinungsfreiheit.

Hat man im Kaiserreich etwas gegen den Kaiser oder die Monarchie gesagt, landete man im Zuchthaus. Und wenn man im Dritten Reich etwas gegen die Nazis gesagt hat, verschwand man im Keller der Gestapo. Oder wurde kurzerhand an die Wand gestellt. Köpfen war auch gern genommen.

Daraus hatte man gelernt. Die Architekten der Bundesrepublik wollten eine freiheitliche Gesellschaft, ohne die Bedrohung durch die Willkür einer herrschenden Elite oder Partei. Deshalb schrieben sie 1949 den Artikel 5 in unsere Verfassung.

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
Artikel 5


(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt. […]

Durch diesen Hintergrund ist eigentlich schon verständlich, worum es geht.
Die Meinungsfreiheit ist ein so genanntes Abwehrrecht gegen den Staat. Damit man nicht verhaftet wird, wenn man sagt oder schreibt, dass man die Grünen voll doof findet.

Inzwischen wird dieser erste Satz des Artikel 5 aber immer wieder dazu missbraucht zu argumentieren, dass man sich in Social Media Kommentaren frei äußern dürfe. Grundsätzlich darf man das auch, ohne ins Zuchthaus zu kommen. Es ist ja bis heute auch noch keiner dafür in den Gulag geschickt worden, weil er geschrieben hat „Merkel muss weg“.

Dieses Abwehrrecht gegen den Staat gilt also für eine Bestrafung durch den Staat.
Wenn ein Seitenbetreiber, der Betreiber eines Twitter Accounts oder einer Facebook Fanpage aber einen Kommentar löscht, ist das ja gar keine Bestrafung durch den Staat. Auch wenn der Kommentierende das als Strafe empfinden mag.

Um es ganz grundsätzlich eselsbrückenmäßig zu unterscheiden:
Wir haben das Strafgesetzbuch (StGB) und das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB).
Das eine ist für Straftaten wie Mord, Betrug und Diebstahl. Also wenn es um den Staat gegen den Bürger geht. Das andere ist dafür da, wenn Bürger (oder Organisationen, Unternehmen, Vereine) sich untereinander streiten. Wegen Verträgen, wenn einem etwas geklaut wurde oder wegen sonntagmittags Rasenmähen. (Wahlweise Faithless‘ Insomnia besoffen morgens um drei bei 120 Dezibel im Mietshaus in Ennepetal.)

Geht es darum, dass der Staat jemanden beschuldigt (oder selber beschuldigt wird) steht da immer der Staatsanwalt als Anwalt des Staates vor Gericht. Geht es um das BGB, also Bürger gegen Bürger, stehen da nur Bürger oder deren Anwälte.

Vielen ist nicht bewusst, dass sie sich im Internet nicht in einem öffentlichen Raum befinden. Sondern juristisch gesehen auf einem Privatgrundstück. Denn die Seite, auf der sie etwas kommentieren, gehört ja jemandem.

Kommentiert man beispielsweise etwas auf Facebook, dann gehört diese Seite auch Facebook. Und deshalb kann Facebook löschen, was es will. Der Nutzer, der kommentiert, hat dem in einem Vertrag zugestimmt. Das ist ein Dienstleistungsvertrag, der genau so viel wert ist wie ein Kaufvertrag. Auch wenn die meisten ihn nicht gelesen haben. Auch beim Einkauf im Supermarkt schließen wir einen Vertrag.

Der jeweilige Betreiber einer Fanpage mietet die Fanpage von Facebook. Damit ist er quasi der Besitzer, Facebook ist der Inhaber.
Das ist exakt die Konstellation, wenn jemand Unfug in meinem Wohnzimmer erzählt. Dann schmeiße ich ihn raus. Ich besitze die Wohnung, mein Vermieter ist der Eigentümer, und der da Unfug erzählt ist ein Arschloch, das ich nicht in meiner Bude haben will.
Das alles hat mit dem Staat absolut nichts zu tun. Der Spinner kann sich später auch nicht darauf berufen, dass er auch in meinem Wohnzimmer Meinungsfreiheit hätte.
Viele ziehen sich aber genau das aus dem Artikel 5. Dass sie jederzeit überall sagen dürfen, was sie wollen. Sie leiten daraus das Recht ab, etwas auf der Plattform anderer zu veröffentlichen.

Ein anderes Beispiel: Es gab eine Zeit vor Netz 2.0, also vor der Möglichkeit auf Plattformen anderer etwas zu veröffentlichen (Digitale Antike). Damals wäre keiner auf die Idee gekommen, dass er ein Anrecht darauf hat, dass sein Leserbrief an eine Zeitung auch veröffentlicht wird. Genauso absurd wäre zu behaupten, man habe ein Recht darauf, dass ich jede Mail auf dieser Internetsite veröffentlichen muss.
Bei vielen findet aber genau das in den Köpfen statt.

Eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach Mitte 2021 hat gezeigt, dass fast die Hälfte der Deutschen das Gefühl hat, die Meinung nicht frei äußern zu können. Dabei hat sich gar nicht viel geändert.
Es ist doch eher davon auszugehen, dass die Menschen die Möglichkeiten des Netz 2.0 als so selbstverständlich annehmen, dass sie mit „Meinung sagen“ eigentlich „veröffentlichen“ meinen. Und das können sie selbstverständlich nicht.
Das hätten sie vorher aber auch nicht gekonnt, wenn ihnen nicht gerade ein Radiosender oder die Bäckerblume gehörten. Dieses Bewusstsein ist nicht verloren gegangen, es hat es nie gegeben. Der Mensch ist nicht angekommen im Netz 2.0.

Genau diesem Denkfehler entspring auch die Unterstellung, das Löschen von Kommentaren sei „Zensur“. Die im Artikel 5 untersagt ist. Das liegt vermutlich auch daran, dass wir inzwischen das Wort „Zensur“ unscharf verwenden. Eben weil es sie lange nicht mehr gibt.
Zensur bedeutet im Sinne unserer Verfassung, dass der Staat verbietet, bestimmte Dinge zu veröffentlichen. Wie es in Russland aktuell verboten ist, den Krieg in der Ukraine als Krieg zu bezeichnen. Lösche ich aber einen Kommentar auf der Fanpage dieses Blogs, ist das keine Zensur.

Ganz pfiffige Querdullies kommen dann häufig auf die Idee zu argumentieren, dass es ja Gerichtsurteile gegeben hat, dass Facebook nicht einfach einen Kommentar löschen darf. Das ist auch total richtig, hat aber mit Meinungsfreiheit nichts zu tun.

Dabei ging es im Kern nämlich gar nicht um die Meinungsfreiheit. Bei all diesen Prozessen stand kein Staatsanwalt mit im Gericht. Es ging eigentlich um Vertragsbruch, Bürger gegen Bürger, Nutzer gegen Facebook.
Denn Facebook hat ja Nutzungsbedingungen. In denen es reinschreibt, was es löscht und was nicht. Löscht es einen Kommentar, ohne dass dies in diesen Vertragsbedingungen vorher erklärt ist, kann man dagegen klagen. Und sogar Recht bekommen.
Doch die Gesetzeslage verändert sich derzeit auch häufig. Durch den Kampf gegen den Hass im Netz. Inzwischen gibt es auch Urteile, in denen Facebook Recht gegeben wurde. Weil ein Kommentar von den Richtern als Hetze eingeschätzt wurde. Zudem muss Facebook im Grunde nur seine Nutzungsbedingungen anpassen, und schon ist es beim nächsten Querschläger aus dem Schneider.

Lösche ich einen Kommentar auf der Facebook Fanpage dieses Blogs, oder auf Twitter, kann man mir übrigens gar nichts. Weil ich ja gar keinen Vertrag mit dem Nutzer habe. Betreiber von Fanpages und Gruppen können nach Gutdünken löschen, wie sie gerade lustig sind.

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