Sozial hat ein Ende

Wie rechts ist Links?

Angeregt durch eine (sehr nette!) Kritik bin ich zu einer Einsicht gelangt, was wohl meine Definition von „sozial“ von der vieler anderer Menschen unterscheidet. Und warum das offenbar häufig als „abgehoben“, „unsozial“ oder gar „rechts“ interpretiert wird.

Ich habe da so eine Ahnung, dass das auch in die Richtung gehen könnte, warum Rechtspopulisten im Osten signifikant mehr Zuspruch erhalten und warum die Grünen als „abgehoben“ kommuniziert werden.

Seit nun 20 Jahren bin ich Mitglied in einem lokalen, gemeinnützigen Verein. Da sind nur etwa 30 Leute Mitglied, er hat aber einen siebenstelligen Umsatz. Was der Verein macht ist eigentlich sehr einfach: Er sackt Fördergelder von der EU, dem Bund, der Kommune und anderen ein und bietet dafür kostenfreie Beratung. Natürlich von Profis, nicht von mir. Ich habe dort auch zeitweise gearbeitet, aber nicht als Berater… Höchstens bei Bewerbungen. Man kann sich das wie ein Ärztehaus vorstellen, nur dass da keine Ärzte sitzen, sondern Soziologen, Psychologen und andere -ogen. Und die bieten Paarberatung (bis zur häuslichen Gewalt), Flüchtlingsintegration, Schuldnerberatung, Beratung bei falschen Hartz-IV-Bescheiden und einiges mehr.

Das Ziel ist ein offensichtlich sehr soziales: Den Menschen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Das steht als Prämisse über den Leitlinien.

Meiner Meinung nach endet das „sozial“ damit aber.
Man kann in einer Sozialdemokratie den Menschen Hilfe zur Selbsthilfe anbieten. Man muss sie da abholen, wo sie sind. Man kann und sollte sie aber nicht an die Hand nehmen. (Eigentlich darf man es nicht einmal, weil es eine Bevorzugung gegenüber anderen wäre.)

Selbstverständlich haben wir in diesem Land viele Probleme. Und alle haben es verdient, dass man etwas dagegen tut.
Doch meine Vorstellung von sozialer Hilfe ist es, dass alle gewässert und gefüttert sind, Zugang zu Trinkwasser haben, ein Dach über dem Kopf haben. Dazu gehören ganz selbstverständlich so Dinge wie Chancengleichheit, Integration und Inklusion, Respekt, Gleichberechtigung, und so weiter.

Dazu muss man sich auch bestimmte Realitäten klar machen. Beispielsweise, dass jedes Lebensumfeld von den marktwirtschaftlichen Gegebenheiten abhängt. In der einen Region gibt es wenige Jobs, in der nächsten Region gehen die Mieten nach oben und ohne Schulabschluss oder Ausbildung wird man mit hoher Wahrscheinlichkeit den Rest seines Lebens auf der untersten Sprosse der sozialen Leiter stehen. Es gibt dazu einige Erhebungen: So gut wie nichts, was irgendein Staat unternimmt, wird die persönliche Position ändern. Politik und Gesetze haben einen überraschend geringen Einfluss auf unser aller Lebensrealität. Wer arm ist, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit sein Leben lang zu den Ärmsten gehören, egal wer regiert und was die Regierung tut.

Man muss unterscheiden zwischen dem, was einen persönlich betrifft, und der politischen Ebene.
Ein Kinderarzt auf der Onkologie muss seine Patienten behandeln und sich politisch dafür einsetzen. Was er persönlich nach Feierabend damit macht, ist seine Sache. Und nimmt er zu viel mit nach Hause, wird er bald ausgebrannt sein.
Gibt es in einem Asylantenheim eine gewalttätige Auseinandersetzung, dann ist das auch ein gesellschaftliches und politisches Problem. Viele regen sich aber derart darüber auf, als wenn es sie irgendwie persönlich tangieren würde. Während eine Messerstecherei zwischen zwei deutschen Jugendlichen in einer Disco sie völlig kalt lässt.

Die vielbeschworenen Rentner, die gezwungen sind Pfandflaschen zu sammeln, sind sehr wenige in Deutschland. Und wenn man sich das mal genauer anguckt, liegt es meist daran, dass sie nicht aus zu großen Wohnungen wegziehen wollen oder keine „Sozialhilfe“ in Anspruch nehmen wollen. Weil es in weiten Teilen der Bevölkerung bis heute stigmatisiert ist.
Schaut man sich einmal die Gründe für Obdachlosigkeit an, ist das meist eine allgemeine Lebensüberforderung, die in einer Komorbidität meist mit Alkoholismus, Drogenabhängigkeit oder psychischen Problemen einhergehen. Obdachlose erfrieren häufig nicht, weil sie keine andere Option haben, sondern weil sie Hilfen nicht annehmen. Und betrunken sind. Das ist ein nüchterner Fakt und hat so gar nichts mit „selber schuld“ zu tun.

Ich halte es für falsch, für alles und jedes die Gesellschaft verantwortlich zu machen oder nach dem Staat zu schreien. Und nochmals: Ich begrüße solche Hilfen nicht nur, ich gehöre zumindest indirekt zu denen, die versuchen zu helfen.
Doch mein Engagement und mein Interesse reduzieren sich signifikant, wenn die Einordnung dieser Probleme auf meiner persönlichen Problemskala eine geringere Priorität einnimmt.
Und daraus komme ich folgerichtig zu dem Schluss, den viele wohl nicht verstehen oder anders einordnen.

Wir leben in einem sehr reichen und sicheren Land. Hier muss niemand verdursten, verhungern oder im Freien schlafen. Jeder hat ein gesichertes Überleben mit Strom, so gut wie jeder verfügt über ein Handy und einen Internetzugang.
Und das meine ich mit Wohlstandsverwahrlosung. Wir nehmen diese Dinge für so selbstverständlich, dass wir nicht verstehen, dass sie es nicht sind. In vielen Menschen entwickelt diese scheinbare Selbstverständlichkeit die Forderung nach mehr. Und dem stehe ich mindestens skeptisch gegenüber. Weil die Realität zeigt, dass die Selbstverantwortung häufig nicht geleistet wird, die meiner festen Überzeugung nach vor dem Ruf nach dem Staat zu kommen hat.

Es gibt weder ein Menschenrecht auf ein abbezahltes Häuschen am Ende seines Arbeitslebens, noch ein Menschenrecht auf ein Ende des Arbeitslebens.

Ich bin nicht abgedreht. Ich unterwerfe mich diesen Regeln, die ich auf andere anwende. Ich habe vieles durch. Ich weiß wovon ich rede. Ich erwarte von mündigen Bürgern schlicht, dass sie Selbstverantwortung übernehmen, hart arbeiten und mindestens in der Lage sind aktiv Hilfe zu suchen. Und das hat nichts mit dem stumpfen Argument zu tun, „was ich kann müssen die auch leisten“. Jeder muss das leisten, was er kann.

Um es einmal zu überspitzen, nur um es deutlich zu machen:
Wenn eine junge Frau die Hauptschule schmeißt um in einem Nagelstudio zu arbeiten, sich als Beauty-Influencerin auf Instagram versucht und ihre Abende damit verbringt Dschungelcamp zu gucken, dann ist das ihr gutes Recht. Es ist ihr Leben, ihre Lebensgestaltung. Aber wenn sie dann keinen bezahlbaren Wohnraum innerhalb von 1,5 Fahrstunden zum Nagelstudio in München findet, dann ist es mir politisch ziemlich scheiß egal.

Ein schönes Bild habe ich einmal von einer Bürgerin der ehemaligen DDR gehört: Die Leute saßen auf dem Dorf in der Datscha, und dann kam abends auch mal der Ortsvorsteher der Partei vorbei und sagte: „Lass mal ins Kino gehen“. Weil es in jedem Kaff solche Einrichtungen und Supermärkte gab, weil sie vom Staat künstlich am Leben gehalten wurden. Und das fällt in der Marktwirtschaft weg. Das ist der Preis der Freiheit, denn auch Supermärkte haben die Freiheit da zu verkaufen, wo sie Geld machen können. Und es kommt auch niemand mehr vorbei.

Viele Menschen sind mit der Eigenverantwortung und Freiheit überfordert, glaube ich. Aber um es sich nicht eingestehen zu müssen, wird das auf den Staat und die Gesellschaft umgelenkt.
Und genau das ist der Punkt, wo sie von Rechtspopulisten abgeholt werden. Von denjenigen, die ganz sicher am wenigsten das Wohl aller im Sinn haben, sondern nur das individuelle Wohl. Die Freiheit, an der genau diese Menschen vermutlich noch mehr scheitern würden. Nur um Mal das Stichwort Arbeitnehmerschutz einzuwerfen.

In meinem Wertesystem endet „sozial“ dort, wo es weit wichtigere Probleme gibt.
Die europäische Sicherheitsarchitektur ist massiv bedroht, die Klimakatastrophe kratzt an der Tür, uns steht eine Migration epischen Ausmaßes bevor, nur ein Drittel der Menschen hat regelmäßigen Zugang zu Trinkwasser, wir stehen genau jetzt vor relevanten, weltweiten und nicht rückgängig zu machenden Umbrüchen.

Selbstverständlich denken viele zuerst an ihre Nebenkostenabrechnung und erst dann an die Kinder in Saporischschjas Kellern. Das tue ich auch, es ist menschlich. Doch eben das ist doch das Egozentrische, das Prof. Masala als „Nationalpazifismus“ bezeichnet hat. Die Frage ist, wie man damit umgeht.

Mich stößt es ab, wenn ich das Gefühl habe, jemand sagt „wir“ und meint eigentlich „ich“. Und irgendwie habe ich das Gefühl, ich habe weit mehr für diese Gesellschaft und dieses Land getan, als die meisten, die sich gerade „Freiheit“ und „sozial“ auf die Flaggen schreiben, die sie bei Spaziergängen schwenken.

Ich werde mich nicht dafür entschuldigen, dass ich die Gesetze für Ölheizungen für Hausbesitzer, die Diskussionen um eine Geschwindigkeitsbegrenzung oder den ewig langweilenden Protest gegen die „Zwangsgebühren“ für ziemlich uninteressant halte.

Allerdings ist das in meinem Weltbild ganz sicher weder abgehoben noch rechts.
Es ist ziemlich links, ziemlich sozial und für mache offenbar erschreckend bodenständig.

Aktuelles

Krieg

Wie Elon Musk in den Krieg eingriff

PrologAufgrund einer offenen Umfrage auf der Facebook Fanpage habe ich mich dazu entschlossen, diesen Artikel ohne Bezahlschranke bereitzustellen. Er ist auch auf der Steady Seite für Abonnenten erschienen. Walter Isaacson ist Geschichtsprofessor für Geschichte, ehemaliger […]