Russland: Universität mit Streumunition getroffen?

Die Mechanismen der Nachrichten sagen viel über die Nachricht

Mehrere Medien berichten, die Universität von Donezk sei durch die Ukraine mit Streumunition beschossen worden.
Das ist deshalb heikel, da die Amerikaner gerade erst die hoch umstrittene und von vielen Staaten geächtete Munition an die Ukraine geliefert haben.

Streumunition ist deshalb geächtet, weil eine solche „Bombe“ über dem Ziel in viele kleine Granaten „zerfällt“, die dann im Ziel explodieren. Dabei bleiben aber häufig Blindgänger liegen. Die später detonieren können, wenn Zivilisten sie aus Versehen auslösen. Zudem sind sie häufig über zivilen Gebieten eingesetzt worden, um die die Bevölkerung zu terrorisieren. Vor allem durch Russland und durch das Assad Regime in Syrien.

Die von den USA gelieferte Munition hat eine „Blindgänger-Rate“ von 2,3% bis unter 6%.

Ich will die Meldung nicht abstreiten. Doch ich habe mit der Meldung meine Probleme.

  • Alle Meldungen dazu stammen von Russland selber. Russland ist sich natürlich bewusst, dass die Munition „im Westen“ hoch umstritten ist.
  • Die Universität ist nicht im Regelbetrieb. Sie wurde bereits 2014 evakuiert und nach Winnyzja verlegt. Nicht einmal ein Drittel der Lehrkräfte ist an der Universität verblieben, die seit der Annektion unter russischer Kontrolle ist. Was dort tatsächlich stattfand, ist also fraglich.
  • Bereits 2014 haben die Separatisten der selbsternannten Volksrepublik Donezk Gebäude der Universität als Kaserne benutzt. Die Gebäude bieten sich für so etwas natürlich an.
  • Die USA haben M864 Artilleriegeschosse geliefert. Das sind keine Raketen, sie haben keinen eigenen Antrieb. Sie sind passend für die M777 Feldhaubitzen („Kanonen“), die ebenfalls von den USA geliefert wurden. Diese gezogenen Haubitzen stehen – wie jede Artillerie – üblicherweise mehrere Kilometer hinter der „Front“.
    Diese Munition hat eine maximale Reichweite von 30km. Beim derzeitigen Frontverlauf hätte die Ukraine sie direkt an die vorderste Kampflinie ziehen müssen, um die Universität mit viel Rückenwind überhaupt erreichen zu können.
  • Die Ukraine hat im bisherigen Verlauf des Überfalls meines Wissens keine Angriffe durchgeführt, um Zivilbevölkerung zu terrorisieren. Denn die Zivilbevölkerung in Donezk ist ja nach wie vor ukrainisch. Sie würde ihre eigene Bevölkerung bombardieren, was in der Ukraine selber zu großen Widerständen führen könnte.
  • Ein Angriff auf ein großes Gebäude mit Cluster Bombs mach militärisch keinen Sinn. Dafür ist andere Munition weit besser geeignet. Cluster Bombs werden gegen befestigte Stellungen, Straßen, Landebahnen, Munitionsdepots oder Minenfelder eingesetzt. Also auf freiem Gelände.

Die Meldung ist in allen Medien sehr gleichlautend. Die Kurzmeldung schließt jeweils mit dem Satz: „Beide Seiten dementieren, Zivilisten und zivile Infrastruktur anzugreifen.“
Die einzige genannte Primärquelle ist der russische Bürgermeister der Stadt Donezk Alexej Kulemsin, der dies auf Telegram gemeldet haben soll.

Meine Schlussfolgerung

Nach den bisher vorliegenden Meldungen gehe ich von einem anderen Szenario aus.

Die Kampflinie liegt kurz vor der Stadtgrenze der Stadt Donezk.
Russland nutzt Gebäude der Universität, um Soldaten und/oder Material unterzubringen. Deshalb hat die Ukraine diese Gebäude mit Artillerie beschossen. Vermutlich mit HIMARS, die mit der gelieferten Munition diese Gebäude auch aus rückwärtigen Stellungen leicht erreichen kann. Und sie ist so zielgenau, dass sie einzelne Gebäude und sogar Gebäudeteile treffen kann.

Die gelieferten Cluster Bombs sind im Westen hoch umstritten. Ihr Einsatz erzielt derzeit aber große Erfolge an der Kampflinie weiter im Osten.
Deshalb meldet Russland, die Universität sei mit Cluster Bombs angegriffen worden. Was in der Kürze auch impliziert, hier wäre zivile Infrastruktur angegriffen worden.

Eine Nachrichtenagentur nimmt die Meldung auf. Da die Quelle nirgendwo genannt ist und sich lediglich in einem Medium (taz) das eigentlich veraltete Kürzel „rtr“ findet, gehe ich von der Nachrichtenagentur Reuters aus.
Der Reuters-Redakteur prüft die Meldung Russslands nicht weiter. Daher kennt er diesen Kontext nicht. Vielleicht geht er – in Unkenntnis der militärischen Zusammenhänge – der russischen Meldung dadurch auf den Leim und glaubt, die Ukraine beschieße die eigentlich eigene Infrastruktur mit Streumunition. Und setzt daher den abschließenden Satz unter die Meldung.

Die Medien haben Rahmenverträge mit Nachrichtenagenturen. Zudem gilt in Deutschland das Agenturprivileg: Meldungen von Agenturen müssen nicht geprüft werden, die juristische Verantwortung liegt bei der Agentur. Die fast immer im Ausland sitzt. Deshalb werden auch keine Verfasser oder Quellen angegeben.
Zudem sind sie mit dem Verweis, dass dies eine russische Meldung ist, juristisch raus. Es ist quasi nur ein Zitat, auch wenn es nicht als solches deutlich erkennbar ist.

Viele Medien unterhalten einen Live Ticker zum Ukraine Krieg. Für die ist eine solche Meldung mit wenig Aufwand Gold wert. Denn sie kopieren sie einfach in den Live Ticker und übernehmen die Überschrift „Universität Donezk von Streumunition getroffen“.
Diese erscheint dann im so genannten Clipping: Beispielsweise auf Google, Yahoo oder t-online. Somit lesen viele Menschen die Meldung, da sie prominent „ausgespielt“ wird.

Durch diese Mechanismen bleibt bei vielen im Hinterkopf, die Ukraine würde eine zivile Universität mit geächteter Streumunition beschießen und somit Zivilisten angreifen. Obwohl dies lediglich von russischen Quellen behauptet wurde, militärisch keinen Sinn macht und praktisch mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar unmöglich ist.

Gab es überhaupt einen Angriff?

Bei der Suche nach einem Pressefoto zu diesem Beitrag habe ich viele Bilder des Brandes gesehen. Ich konnte auf keinem der Bilder Anzeichen dafür erkennen, dass das Gebäude überhaupt beschossen wurde. Geschweige denn mit Cluster Munition:
Keine weiteren Einschläge, keine Spuren an der Fassade, die Rettungskräfte bewegen sich frei am Brand (was man in der Situation nur macht, wenn man suizidal ist), Schaulustige filmen mit Handys.

Würde ich die Bilder ohne Kontext sehen, würde ich von einem normalen Dachstuhlbrand ausgehen.

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