Phosphorbomben auf Mariupol

Es wird nichts so heiß gegessen, wie es geworfen wird

Derzeit überschlagen sich die Beiträge zum angeblichen Abwurf von Phosphorbomben auf das Stahlwerk in Mariupol. Dort halten sich nach wie vor ukrainische Kämpfer verschanzt.

Phosphorbomben ist der unmilitärische Ausdruck für alle Brandbomben, aber auch Nebelwerfer, die Phosphor verwenden.
Derzeit veröffentlichen sämtliche Medien Russland hätte heute Morgen das Stahlwerk in Mariupol mit solchen Phosphorbomben beschossen. Und Twitter dreht durch.

Brandwaffen sind seit der Antike bekannt. (Griechisches Feuer)
Phosphorbomben wurden seit dem ersten Weltkrieg von vielen Parteien eingesetzt: Durch Großbritannien und den USA im zweiten Weltkrieg gegen Deutschland, durch die USA in Vietnam und im Irak, durch Israel im Libanon und in Gaza, den Irak in Mossul, Russland und USA laut Augenzeugen in Syrien, die Türkei gegen die Kurden in Syrien und nun laut unterschiedlicher Berichte bereits mehrfach von Russland in der Ukraine.

So bitter es ist: Ein solcher Einsatz ist also für einen Krieg normal und zu erwarten.
Entgegen vieler Medienberichte ist der Einsatz solcher Waffen nicht verboten. (Zusatzprotokolle zum Genfer Abkommen, 1977) Nur wenn es gezielt gegen Zivilisten eingesetzt wird, wovon im Fall des Stahlwerks kaum die Rede sein kann. Da die eingeschlossenen Kämpfer selber Meldungen aus dem Stahlwerk veröffentlichen.
Es verhält sich also genau so wie mit den Streubomben. Die zwar geächtet sind, aber keineswegs verboten. Und die Russland bereits in zivilen Gebieten in Syrien eingesetzt hat.

Also woher die Aufregung?

Die Aufregung ist vermutlich aus drei Gründen groß:
Zum ersten berichten Medien seit Wochen von den eingeschlossenen Kämpfern im Asow-Stahlwerk in der ansonsten eroberten Stadt Mariupol. Es gibt also eine breitere Öffentlichkeit als beispielsweise bei den Kurden in Syrien.
Zum zweiten wird diese Meldung gezielt durch die ukrainische Propaganda verbreitet.
Zum dritten ist es für jeden, der sich schon einmal verbrannt hat, auf einer psychologischen Ebene eher empathisch nachzuvollziehen. Die Wenigsten können einen Vergleich dazu ziehen, von einer Detonation durch die Luft geschleudert zu werden.

Der Stadtratsabgeordnete von Mariupol Petro Andrjuschtschenko hat heute Morgen auf Telegram eine Meldung mit entsprechenden Videos veröffentlicht. Die nun durch die Medien getrieben werden. Diese Videos stammen aus einer nicht identifizierten Quelle, sind also auch nicht mit einem Datum gesichert. Es handelt sich offensichtlich um Aufnahmen von Drohnen.
Alle Medienmeldungen beziehen sich auf diese Sekundärquelle. Bisher gibt es keine anderen Bestätigungen.

Die beschrifteten Bomben: Volle Auflösung bei Klick

Zu sehen ist lediglich ein Angriff auf einen Teil des Stahlwerks, der mit Brandbomben durchgeführt sein könnte. Dabei kann es sich jedoch auch um Gefechtsfeldbeleuchtung oder ähnliches handeln.
Phosphorbomben detonieren üblicherweise unmittelbar über einem Ziel oder im Ziel. In diesem Fall sieht es aber eher so aus, als würden Brandgeschosse langsam auf das Stahlwerk „regnen“. Was exakt das ist, was die Quellen auch beschreiben. (Screenshot Bild oben)

Bei den anderen Aufnahmen handelt es sich eindeutig nicht um Brandbomben, weder Phosphor noch andere.

Beschriftete Bomben

Zusätzlich wurden Aufnahmen veröffentlicht, welche handgeschriebene Nachrichten auf den Bomben zeigen sollen. Auch da sind die Quellen nicht verifizierbar.

Zunächst muss man das einordnen: Solche Beschriftungen sind eine makabre Tradition. Sie werden üblicherweise von den Warten angebracht, welche die Flugzeuge mit den Bomben bestücken. Sie sind also sicher keine offizielle Nachricht einer Regierung. Wozu auch? Sie sind danach kaputt.

Auf einer der Bomben, die auf Libyen geworfen wurden, hatte ein amerikanischer Techniker „Greet your children, Gaddafi“ („Grüß deine Kinder“) geschrieben; ein Foto wurde öffentlich. Gaddafis Sohn Saif al Arab war bei einem solchen Bombenangriff getötet worden.
Es wurde berichtet, es sei ein Angriff der NATO gewesen. Was schlicht falsch ist. Diese Berichte sind bis heute online. Konfliktpartei waren die Vereinten Nationen UN (Resolution 1973, Deutschland hatte sich enthalten und zog eine direkte Beteiligung zurück), auf Vorschlag der Arabischen Liga. Auch Russland und die Arabischen Emirate waren u.a. beteiligt. Die NATO war als Bündnis jedoch uneinig. Auch das wird bis heute propagandistisch anti-amerikanisch und anti-NATO wahrheitswidrig ausgeschlachtet.

Zudem wird ein Zusammenhang mit dem Gewinn der Ukraine beim Eurovision Song Contest konstruiert. Auch diese Aufnahmen kommen scheinbar von dem Abgeordneten Andrjuschtschenko.
Doch da stellt sich die Frage, warum ein russischer Techniker auf Englisch „Help Mariupol – help Azovstal right now“ auf eine Bombe schreiben sollte. Mir stellt sich die Frage, ob es in ganz Russland einen einzigen solchen Techniker gibt, der Englisch schreiben und sprechen kann. Und der den Eurovision Song Contest gesehen hat.

Magnesium-Raketen statt Phosphorbomben

Laut Redaktionsnetzwerk Deutschland RND soll die ukrainischen Zeitung „Ukrajinska Prawda“ veröffentlicht haben, Moskau habe wiederum mitgeteilt, dass sogenannte „9M22C-Brandgranaten“ verwendet wurden.
An dieser Länge der Herleitungen sieht man, wie die Informationslage tatsächlich ist. Hörensagen deLuxe.
Diese Nachricht würde aber absolut Sinn ergeben. Und sich zudem mit dem Video decken.

BM-21 von 1963 auf Ural-375D LKW

Bei diesen 9M22C handelt es sich aber nicht um „Granaten“, sondern um einen von vielen verschiedenen Gefechtsköpfen, die auf Raketen beispielsweise von dem BM-21 aus verschossen werden. Dieses 1963 eingeführte Waffensystem ist in der Ukraine im Einsatz.

Die Angaben widersprechen sich auch da. Einmal sollen es 9M22C gewesen sein, einmal 9M22S. Der Unterschied ist offenbar, dass die eine Rakete mit Thermit und die andere mit Magnesium ausgestattet ist. In beiden Fällen wäre es aber weder Phosphor, noch wäre es eine Bombe.

Und tatsächlich kann es sich dabei nicht um die beschrifteten Bomben halten, die auf den Bildern zu sehen sind. Denn die 9M22 haben das Format eines Laternenpfahls und der Beschriftende hätte mit Kugelschreiber schreiben müssen.

Fazit

Brandgeschosse sind verabscheuungswürdig. Trotzdem werden sie seit Jahrzehnten weitreichend und von allen Seiten eingesetzt. Ein solcher Angriff wäre also nichts außergewöhnliches und mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht „illegal“.

World Press Photo 1972:
In der Mitte die 9-jährige Kim Phúc
#GebtdenOpfernihreNamen

Offensichtlich wurde das Stahlwerk Mariupol in einem von vielen Angriffen auch mit Brandgeschossen angegriffen. Zumindest Teile davon. Das ist unsensationell völlig glaubwürdig.

Daraufhin melden ukrainische Quellen, namentlich mindestens der Stadtabgeordnete Andrjuschtschenko, das dramaturgisch aufbereitet und mit Fotos und Videos aus unbekannten Quellen versehen auf Telegram. Die Medien greifen dies auf, mindestens das Redaktionsnetzwerk Deutschland. Mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Agenturen, weshalb die Meldungen überraschend gleich und ungenau und sogar falsch sind. Aus Brandwaffen werden Phosphorbomben.

Bei den Lesern entsteht der Eindruck, Russland hätte ausnahmsweise oder mal wieder ein verbotene Waffe eingesetzt. Als Bomben von Flugzeugen aus. Und könne dafür bestraft werden. Vor allem entsteht der Eindruck eines in die Ecke gedrängten Putin, der zum Äußersten greift. (Der weiß da wahrscheinlich gar nix von.)
Das erzeugt Klicks. Und es verhindert den Blick auf das Wesentliche.

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