Nuhr-Interview: Der gut versteckte Populismus

Die Desorientierung von rechts und links

Natürlich wollte ich mich zu dem Interview mit Dieter Nuhr äußern, das derzeit von den Populisten durch Social Media getrieben wird. „Ich glaube, dass Deutschland sich im Verfall befindet.“

Nach wenigen Minuten wurde mir klar: Das bringt nichts.

Aus dem sehr einfachen Grund, dass man für eine Argumentation erst einmal eine gemeinsame Basis haben muss. Einen Konsens über das, worüber man diskutieren will. Ein gemeinsames „ist“.
Bereits daran scheitert es.

Doch dafür habe ich in den wenigen Minuten, die ich ertragen konnte, eine neue Perspektive gewonnen. Warum Nuhr gerne von Populisten instrumentalisiert wird. Warum Konservative ihn gerne instrumentalisieren. Weil Nuhr zutiefst konservativ ist.

Ich habe das Gefühl, das geht vielen Menschen so, die sich eigentlich eher links verorten. Dabei gibt es ein Problem, das vielen wohl nicht bewusst ist.
Konservativ heißt bewahrend. Und rechts ist konservativ. Links bedeutet progressiv, was man mit „fortschreitend“ oder „sich entwickelnd“ übersetzen könnte. Das bedeutet zwangsläufig, dass links immer weiter nach vorne geht und sich entwickelt.

Nuhr steht für mich symptomatisch für viele Menschen, die irgendwo im Linkssein des vergangenen Jahrhunderts stehengeblieben sind.
Und er sagt es selber: Er habe inzwischen Probleme damit zuzuordnen, was links und was rechts ist und wo er verortet würde. Das liegt ganz einfach daran, dass das, was in den 1980ern links war, heute nicht mehr zwangsläufig links ist.

Eine typisch linke Forderung war der Zusammenschluss von Deutschland. Nicht im vergangenen Jahrhundert, sondern im Jahrhundert davor. Das nächste linke Ziel waren die Arbeitsrechte. Kinderarbeit, Arbeitszeiten, Versicherung, Urlaubstage. Danach kamen dann so Themen wie Vergewaltigung in der Ehe und Gleichberechtigung von Schwulen.
Das sind alles Dinge, die wir weitestgehend umgesetzt haben. Genau deshalb ist die Bundesrepublik in ihrer Grundausrichtung bereits ziemlich weit links.

Links schwimmt auf seiner Zeit, es passt sich an, es ist dynamisch. Die Frage ist also zwangsläufig, was die nächsten Ziele der politischen Linken sind. Demokratische Politik ist immer ein Tauziehen zwischen einem rechten „Nö, lass ma so lassen, läuft doch gut“ und einem linken „Nä, das geht besser.“
Und Menschen wie Nuhr und die derzeitigen antiamerikanistischen Wutbürger – die sich nicht entblöden mit Querdenkern zu demonstrieren – sind einfach stehen geblieben.
Als ich begonnen habe auf dieser Seite zu bloggen war ich erschrocken, und bin es bis heute, wie viele Menschen bei dem bipolaren Weltbild aus NATO und Sowjetunion oder USA und Russland stehen geblieben sind.

In dem Ausschnitt des Interviews, der seit gestern u.a. durch Twitter geprügelt wird, äußert sich Nuhr zu der Aktion von Nancy Faeser während der Weltmeisterschaft in Katar. Sie habe sich auf der Tribüne erstmal „halb ausgezogen“ und dann „diese alberne Binde getragen“. Das hätte „so viel Porzellan zerschlagen“. Und Deutschland würde als „lächerlich“ wahrgenommen.

Und da beginnt das Problem. Ich kann darüber nicht argumentieren, weil ich das so nicht wahrnehme.
Weder bezeichne ich es als „halb ausziehen“, wenn eine Frau in einem Stadion in einem Wüstenstaat das Jackett ablegt. Noch sehe ich, dass da auch nur eine Kaffeetasse zu Bruch gegangen ist. Geschweige denn, dass Deutschland als „lächerlich“ wahrgenommen würde.

Nach dem, was ich durch viele Kommentare auf Social Media, ausländische Presse und politische Reaktionen mitbekomme, wird Deutschland als die größte Macht Europas wahrgenommen. Als unfassbar freies Land, als Wirtschaftsmacht und als Place to be. Deutsche wandern nicht mehr in die USA aus, Amerikaner wandern nach Deutschland aus.
Das klingt nicht nach „lächerlich“.

Nuhr sagt, Diplomatie bedeute zu akzeptieren, dass andere Menschen anders sind. Und dass Diplomatie versuchen müsse, die eigenen Interessen umzusetzen.
Abgesehen davon, dass die Definition nicht stimmt: Das ist das Gegenteil von Links.

Ich möchte in keinem Land leben, das die Unterdrückung von Frauen akzeptiert, Schwule an Baukränen normal findet, in Konzentrationslager einpferchte Minderheiten lieber nicht anspricht. Und ich halte es für diplomatisch selbstverständlich, dass Deutschland sagt: Das finden wir nicht gut. Natürlich gibt das Gegenwind.

Die einzigen Exportschlager von Katar sind Öl und Geld, das mit Öl verdient wurde. Wenn Deutschland sich langsam aber sicher von Öl verabschiedet, dann hat Katar absolut nichts, was es Deutschland anbieten kann. Ganz ähnlich verhält es sich mit Russland.
Diese Staaten übervorsichtig nicht vergrätzen zu wollen, weil man offen kommuniziert wofür man steht, ist nicht nur in der Rolle Deutschlands der 1970ern stehengeblieben. Es fördert diese konservative Weltordnung, die auf Basis der fossilen Brennstoffe und der Unterstützung der Konzerne möchte, dass alles so bleibt wie es ist.

Und da schließt sich der Kreis zu dem Interview.
Nuhr hat dieses Interview Ralf Schuler gegeben. Der genau dieses konservative Bild trefflich journalistisch vertritt. Denn der hat als Ostdeutscher bei einer CDU-Zeitung angefangen, ist dann u.a. zur Welt gegangen und hat dann 12 Jahre die Parlamentsredaktion der Bild geleitet. Bis vergangenen Oktober.

Nachdem Schuler bei der Bild hingeschmissen hat, arbeitet er nun für die Produktionsfirma von Julian Reichelt. Die auch das Format produziert, für das Nuhr interviewt wurde.
2019 veröffentlichte Schuler ein Buch mit dem Titel „Lasst uns Populisten sein: Zehn Thesen für eine neue Streitkultur“. Das ich sicher nicht lesen werde. Das sich aber offenbar an der Umdeutung des Begriffs Populismus versucht.

Aus dem Teaser Text: „Populismus ist ein politisches Schimpfwort. Dabei sollte Populismus im ursprünglichen Sinn des Wortes eine demokratische Urtugend sein. Was das Volk („populus“) will, erwartet, sagt, gehört in einer Demokratie natürlich in die politische Diskussion.“
Kann man so behaupten. Dann sollte man aber daran denken, dass „populus“ auch die Herkunft von „Pöbel“ ist. Und dass die NSDAP gewählt wurde.

Anstatt zu hinterfragen, warum der angeblich linke Nuhr dem Schuler von Reichelt überhaut ein langes Interview gibt, hat er auch noch das Vorwort zu seinem neuen Buch geschrieben. „Generation Gleichschritt. Wie Mitlaufen zum Volkssport wurde“.

Ich verzeihe mir, dass ich für das Interview nicht mehr Lebenszeit vergeude, als diesen schnellen Hüftschuss nach wenigen Minuten.

Aktuelles

Krieg

Wie Elon Musk in den Krieg eingriff

PrologAufgrund einer offenen Umfrage auf der Facebook Fanpage habe ich mich dazu entschlossen, diesen Artikel ohne Bezahlschranke bereitzustellen. Er ist auch auf der Steady Seite für Abonnenten erschienen. Walter Isaacson ist Geschichtsprofessor für Geschichte, ehemaliger […]