Mouhamed Dramé: Mutmaßungen widerlegt

Eine unvollständige Liste

Vor einer Woche wurde der Flüchtling Mouhamed Dramé aus dem Senegal in Dortmund von der Polizei erschossen.

Seitdem geht es auf Social Media hoch her, auch auf der Ungemeve Facebook Fanpage. Dabei ist ein Zwiespalt zu beobachten.
Zwischen denen, die erst einmal die Ermittlungsergebnisse abwarten und das Geschehen, so wie es veröffentlicht wurde, auf eher rationaler Ebene beurteilen. Und denen, die sehr emotional über Themen wie Racial Profiling diskutieren wollen. Und bei denen ein großes Misstrauen gegenüber dem Staat und der Polizei herrscht.

Dabei werden von allen Seiten Mutmaßungen eingesetzt. Und einzelne Kommentatoren schrecken auch vor populistischen Argumentationen nicht zurück.

Nach meiner Beobachtung findet aber auch etwas anderes statt.
Diejenigen, die sich ablehnend äußern, stützen sich häufig auf fragwürdige Informationen. Und bauen sich daraus ein Bild, das so aber nicht stattgefunden hat oder haben kann.
Häufig haben Nachfragen gezeigt, dass sie Informationen aus den Medien gar nicht verstanden haben oder falsch einordnen. Zusätzlich berichten Medien auch schlicht falsch, weil sie keine Sachkompetenz haben.

Daher möchte ich hier einige dieser falschen Argumente kurz aufgreifen. Alles natürlich aufgrund den Informationen, die zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt veröffentlicht wurden.

Sechs Mal geschossen

Alle Medien wiederholen gebetsmühlenartig: Auf Mouhamed Dramé wurde sechs Mal mit einer MP geschossen. Das ist schlicht falsch.
Die Obduktion ergab, dass er fünf Mal getroffen wurde. Eine MP5 gibt in der Einstellung drei Projektile ab. Der Kommissar hat also zweimal geschossen.
Der Unterschied ist offensichtlich. Beim „Double Tab“ lernt man, auf ein sich bewegendes Ziel zweimal kurz hintereinander zu feuern. Der Polizist hat also so geschossen, wie es beim Militär und der Polizei in einer solchen Situation gelehrt wird. Das geht unfassbar schnell, leicht unter zwei Sekunden. Der Mann hat mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht einmal darüber nachgedacht.
Hätte er sechs Mal geschossen, wären das 18 Projektile gewesen. Durch diese falsche Formulierung wird der Eindruck vermittelt, es hätte sich um einen bewussten Overkill gehandelt.

Man hätte auf die Beine schießen müssen

Auf die Beine zu schießen wird eher selten geübt, beispielsweise bei der Wachausbildung beim Militär. Beispielsweise um Flüchtende zu stoppen. In einer Notwehrsituation wird jedoch trainiert auf den Brustkorb zu zielen.
Die höchste Priorität ist die Beendigung des Angriffs. Der Tod des Angreifers wird in Kauf genommen.
Ein Schießen auf die Beine ist in einer solchen Situation unsinnig, weil es lediglich drei mögliche Ergebnisse gibt: Das Ziel wird nicht getroffen, das Ziel wird an einer Hauptschlagader getroffen und verblutet sehr schnell, das Ziel setzt seinen Angriff fort.
Dass ein Mensch ins Bein getroffen wird und dann sofort handlungsunfähig umfällt, gibt es nur in Filmen.

Mouhamed Dramé war psychisch krank

Es wurde veröffentlicht, dass Mouhamed Dramé sich zuvor einen Tag in einem psychiatrischen Krankenhaus aufgehalten habe. Wann das war, wurde nicht veröffentlicht. Das bedeutet nicht, dass er „psychisch krank“ war. Vermutlich war er dort aufgrund einer akuten Situation. Eine stationäre Unterbringung war offenbar nicht nötig. Das bedeutet, dass man nicht davon ausgehen kann, dass er „psychisch krank“ war.

Mouhamed Dramé wurde psychologisch betreut

Nach ersten Informationen der Medien bzw. der Staatsanwaltschaft war Mouhamed Dramé in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht. Dort befand er sich seit etwa einer Woche. Vorher war er in einem anderen Bundesland untergebracht.
Es ist also sehr wahrscheinlich, dass er sich noch nicht lange in Deutschland befand.
In dieser Einrichtung wurde er mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit aber nicht therapeutisch betreut.

Mouhamed Dramé war suizidal

Ein Betreuer, also wahrscheinlich ein Sozialarbeiter, der Einrichtung hat einen Notruf abgesetzt. Was er der Polizei mitgeteilt hat ist nicht genau veröffentlicht worden.
Damit ist also fraglich, ob die Beamten vor Ort wussten, womit sie es im Einsatz zu tun hat bzw. haben würde. Also ob sie wussten, wie alt Mouhamed Dramé war, welche Sprache er spricht, ob er ein Selbstmordattentäter oder ob er suizidal war.

MP darf nicht eingesetzt werden

Die MP5 ist bei den Landespolizeien standardmäßig auf jedem Einsatzfahrzeug. Es gibt keine Vorschrift, wann und wie diese eingesetzt werden darf.
Eine MP mit Schulterteil kann stabiler und ruhiger geschossen werden. Es daher völlig normal, wenn ein Einsatzleiter bei einer im Polizei-Jargon so genannten Lebe-Lage (lebensbedrohlichen Lage) Beamten zur Sicherung mit einer MP einteilt.
Die MP5 hat das gleiche Kaliber wie die Dienstpistole am Mann. Es macht also kaum einen Unterschied, ob mit einer MP oder mit einer Dienstpistole auf Mouhamed Dramé geschossen worden wäre.

Mit Maschinengewehr erschossen

Der Unterschied zwischen einem Maschinengewehr und einer Maschinenpistole MP5 ist, dass das Maschinengewehr so lange feuert, so lange man abdrückt. Das alte MG3 der Bundeswehr ist so schwer und hat einen solchen Rückstoß, dass es von den größten und schwersten Männern der Einheit geführt wird. Es ist doppelt so lang und schwer wie eine MP.
Wäre Mouhamed Dramé mit einem Maschinengewehr erschossen worden, wären die Auswirkungen weit schlimmer gewesen.
Die Landespolizeien haben kein MG. Es ist eine reine Kriegswaffe, auch im laienhaften Sinn des Begriffs.

Mouhamed Dramé war 16 Jahre alt

Es ist unklar, woher diese Feststellung überhaupt stammt.
Im Senegal werden Ausweise und Reisepässe nur auf Antrag ausgestellt. Der Ausweis wird nur im Senegal ausgestellt. Laut Konsulat kann auch ein Reisepass nicht in Deutschland ausgestellt werden.
Die Staatsanwaltschaft hat nach Aussage des Oberstaatsanwalts Dombert ein Gutachten zur Altersfeststellung in Auftrag gegeben. Das macht es wahrscheinlich, dass die Altersangabe auf Selbstauskunft beruht oder aus anderen Gründen zweifelhaft ist.

Er war noch ein Kind

Die Kindheit endet juristisch mit dem 14. Lebensjahr.
Einen mutmaßlich 16-Jährigen als Kind zu sehen, ist den Bewertungen einer Wohlstandsgesellschaft geschuldet.
In der Bedrohungslage eines Messerangriffs gibt es keinen Unterschied zwischen einen 16-Jährigen und einem Volljährigen.

Man hätte einen Psychologen rufen müssen 1

In einer solchen Situation kann man nicht einfach irgendeinen Psychologen rufen. So etwas gibt es nicht.
Menschen, die für solchen Situationen ausgebildet sind, müssen eine zusätzliche und hochspezialisierte Ausbildung in der Krisen-Intervention haben. So etwas kann weder ein Verkehrspsychologe noch ein Gerichtspsychologe. Selbst bei einem Psychotherapeuten wäre es noch schwierig.
Zusätzlich hätte man einen entsprechend ausgebildeten Psychologen finden müssen, der entweder fließend Französisch oder eine der mehr als sechs senegalesischen Sprachen spricht. Da Mouhamed Dramé kein Deutsch sprach. Es ist fraglich, ob es so jemanden in Nordrhein-Westfalen gibt.

Man hätte einen Psychologen rufen müssen 2

Es sind keine Angaben dazu veröffentlicht, wie lange der Einsatz dauerte. Es ist also mehr als fraglich, ob überhaupt Zeit gewesen wäre, jemand anderen als höchstens Sanitäter zu verständigen.

Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus

Die Ermittlungen wurden an die Polizei Recklinghausen überwiesen. Das führte zu Kritik. Da einige davon ausgehen, dass Polizisten nicht kritisch gegen andere Polizisten ermitteln würden.
Dabei wird vergessen, dass die Ermittlungen von der Staatsanwaltschaft geleitet werden. Die ihrerseits nicht, wie die Polizei, dem Innenministerium, sondern dem Justizministerium untersteht. Zusätzlich werden die Ermittlungen vom Landeskriminalamt begleitet, das sicher einen eigenen Bericht verfassen wird.
Und selbst wenn dann etwas nicht koscher ist oder viel öffentlicher Druck entsteht, kann die Bundesstaatsanwaltschaft den Fall an sich ziehen.
Das kann in der Praxis beispielsweise bedeuten, dass Zeugen und Polizisten nicht von anderen Polizisten vernommen werden, sondern von der Staatsanwaltschaft.

Deeskalieren 1

Laut Recherchen der Medien, die sich wiederum auf Ermittlerkreise berufen, hat Mouhamed Dramé nicht auf die Ansprache reagiert. Das bedeutet, in der akuten Situation war die Deeskalation damit gescheitert. Daraufhin wurde Pfefferspray eingesetzt, damit er seine Waffe fallen lässt. Als er stattdessen jedoch zwei Beamte angriff, wurden zwei Taser eingesetzt. Erst dann wurde geschossen.
Pfefferspray und Taser dienen nicht der Deeskalation. Ziel ist es, das Ziel ohne letale Wirkung Handlungsunfähig zu machen. Auch deren Einsatz muss gerechtfertigt sein.

Deeskalieren 2

Selbstverständlich wäre wünschenswert gewesen, wenn man die Lage vorher hätte deeskalieren können. Ob es dafür überhaupt eine Chance gegeben hätte, werden erst die Ermittlungsergebnisse zeigen.
Um diese Frage, wie auch Probleme wie strukturellen Rassismus, mangelhafte Ausbildung oder ähnliches, kann es also erst später gehen. Jegliche Diskussion darüber muss zum jetzigen Zweitpunkt zwangsläufig mit Mutmaßungen oder Unterstellungen argumentieren.

Mutmaßung

Es ist angebracht, Mutmaßungen bis zur Veröffentlichung zu unterlasen. Ich möchte trotzdem einmal eine von vielen möglichen Variablen abgeben. Einfach, um mal eine andere Perspektive anzubieten.

Mouhamed Dramé ist nach Europa geflohen und irgendwie in Deutschland gelandet. Vermutlich über Italien. Auf dem Weg hat man ihm gesagt, dass er als Minderjähriger besser Chancen hätte. Bei der Einreise hat er sein Alter daher mit 16 angegeben.

Hier wurde er dann nach dem Königssteiner Schlüssel nach Nordrhein-Westfalen gebracht. Dort hat man ihm dann mitgeteilt, dass ein Asylantrag vermutlich keine Aussicht auf Erfolg hat. Da Flüchtlinge aus dem Senegal nicht anerkannt werden.

Das hat zu einer psychischen Belastung geführt. Das ist nicht zu schmälern, der junge Mann hatte eine Flucht von 4000 Kilometern hinter sich und Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Wobei er vielleicht aber auch bewusst versucht hat, sich dem zu entziehen. Dazu ist er in ein psychiatrisches Krankenhaus gegangen, wo er diagnostiziert wurde. Und eine stationäre Aufnahme für nicht notwendig beurteilt wurde. Als letzten Ausweg sah er die Ankündigung von Suizid. Worauf die Polizei aber völlig anders reagiert hat, als er aus verschiedenen Gründen mit gerechnet hatte. Und dann in einer ad hoc Eskalation die Polizisten angegriffen hat.

Ich bin selber Mitglied in einem gemeinnützigen Verein, der neben vielen anderen Angeboten auch seit der Akutphase 2015 die kommunale Flüchtlingsbetreuung übernommen hat. Also etwas ganz Ähnliches wie die Einrichtung, in der Mouhamed Dramé untergebracht war.
Sollten andere Informationen dazu veröffentlicht werden, werde ich das natürlich hinterfragen oder verwerfen. Ich halte diese Mutmaßung aufgrund der derzeit veröffentlichten Informationen und aufgrund meiner eigenen Erfahrungen für naheliegender als andere Variationen.

Jeder sollte sich selber informieren

Allemal naheliegender, als das Narrativ, das von einigen Kommentatoren und Meinungsmachern vor allem, aber nicht ausschließlich, aus dem ultra-linken Spektrum verbreitet wird.

Anzunehmen, dass der Kommissar keine Notwehr-Situation erkannt hat, die den Schusswaffengebrauch rechtfertigt, bedeutet zwangsläufig, dass er bewusst einen Menschen ohne Zwang und Anlass erschossen hat. Vor einem Dutzend Kollegen und weiteren Augenzeugen.

Jeder, der sich sachlich informieren möchte, muss dazu viele Medienberichte lesen. Wobei er genau darauf achten muss, wer wann was gesagt hat. Die einzig wirklich zuverlässige Quelle ist derzeit die Staatsanwaltschaft. Nicht einmal vermeintlich seriöse Medien, wenn sie ihre Quelle nicht angeben.
Wobei der zuständige Oberstaatsanwalt bereits gesagt hat, dass er sich erst in ein paar Wochen dazu äußern will.

Alles, was über diese Informationen hinausgeht sind bewusste Manipulationen, Propaganda, Framing, Priming, Instrumentalisierungen oder Lügen. Egal für welche Seite und mit welchem Ziel.

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