Mitgefühl ist ein Verbrauchsgut

Du bist nicht die Mitte

In Dortmund wurde der mutmaßlich 16-jährige Moumade Dramé aus dem Senegal von der Polizei erschossen. Ersten Aussagen zufolge war es Notwehr.
Nach vielen absurden Kommentaren im Netz habe ich am vergangenen Montag die Dummheit begangen, Einzelheiten zum Schusswaffengebrauch auf der Fanpage zu erklären. Und die Hölle des erregungsbereiten Internetz 2.0 brach über mich hinein.

Ich habe mehrfach versucht zu erklären, dass es mir ausschließlich um den Schusswaffengebrauch in einer Notwehrsituation ging und geht. Nicht um falsches Verhalten der Einsatzkräfte, nicht um Faschismus. Und auch nicht um Rassismus, denn beim Verfassen des ersten Postings wusste ich noch nicht einmal, dass der Getötete Schwarzer war.

Als Höhepunkt habe ich mich gestern darüber lustig gemacht, dass eine „queere und antifaschistische“ Facebook Gruppe mich auf eine Black List gesetzt hat. Zusammen mit der AfD, KenFM, Sahra Wagenknecht und anderen Illustren. Jetzt hab‘ ich die auch noch an der Backe.

Ich habe tagelang darüber nachgedacht, warum es für viele Menschen unerträglich zu sein scheint, wenn man nicht in diesen Aufschrei einsteigt. Und einem solche Themen wie LBGTQ – sorry, aber die Abkürzung wird immer länger – nicht interessieren.
Durch einen Kommentar kam ich darauf, worin das fundamentale Missverständnis besteht.

Mitgefühl ist begrenzt und verbraucht sich

Empathie, Mitgefühl und ähnliche Gefühle machen uns zu Menschen. Aber sie sind begrenzt. Bei jedem. Es ist keine unendliche Ressource.

In Afrika verhungern Kinder, ebenso in Nordkorea. In China werden Menschen interniert. Im Iran werden Schwule an Kränen aufgehängt. Auf Telegram war ein Video, in dem ein russischer Soldat einem ukrainischen die Eier abschneidet. In den USA werden täglich Menschen von der Polizei erschossen, in Brasilien zehnmal so viele.

Kein Mensch ist in der Lage, alles Unglück auf seinen Schultern zu tragen. Er ist dazu psychisch nicht fähig.
Man stelle sich das einmal bei der Krankenschwester auf der Onkologie der Kinderstation vor. Die wäre nach wenigen Wochen ausgebrannt und müsste auf Jahre in die Therapie. Anstatt wie sonst erst nach einigen Jahren.

Und das weiß unser Gehirn. Deshalb weisen wir Wertigkeiten zu. Ob wir wollen, oder nicht.
Das verhungernde Kind in Afrika berührt uns weniger, als ein Bettler in der Innenstadt beim Shoppen. Obwohl das der so genannten Invarianz widerspricht, des gleichen Maßstabs für alle Dinge.

Beispielsweise, wenn wir bei einer David-gegen-Goliath-Situation irgendwie immer gefühlsmäßig zum David halten, selbst wenn er im Unrecht ist. Oder wenn wir in den Medien sehen, dass ein psychisch kranker Flüchtling mit einem Messer durch die Innenstadt gelaufen ist, obwohl das unsere eigene Sicherheit in keiner Weise beeinflusst.

Ich hatte mir einmal den Spaß erlaubt die Wahrscheinlichkeit auszurechnen, durch einen Flüchtling getötet zu werden. Die lag dann weit unter der Wahrscheinlichkeit bei einem Flugzeugabsturz zu sterben. Selbst wenn man nie fliegt. Und man das Flugzeug auf den Kopf bekommt oder es beim Fernsehen ins Wohnzimmer rauscht.
Die Welt ist ein beängstigender Ort, wir müssten eigentlich in ständiger Schockstarre sein.

Die Wertigkeit von Ungerechtigkeiten

Ein Konflikt, eine vermeintliche Ungerechtigkeit, erscheint uns wichtiger, wenn wir näher an ihr dran sind. Das ist nicht räumlich gemeint.
Jemand, der sich seit Jahren mit dem Thema Rassismus beschäftigt, wird das Thema auch für sehr wichtig halten. Er verliert quasi betriebsblind die Fähigkeit, sein Thema mit dem Erlebnishorizont und der Wertung anderer in Übereinstimmung zu bringen.

Und das ist ein Kommunikationsproblem dieser Gesellschaft. Denn es herrscht die naive Vorstellung vor, man müsste sich nur laut machen, und andere würden das eigene Problem dann ebenso wichtig finden, wie man selbst.
Doch das ist ein Trugschluss. Es gehört viel mehr dazu. Und derjenige, der sein Thema vertreten will, fühlt sich vor den Kopf gestoßen, wenn er bei anderen nicht das gleiche Engagement hervorruft.

Ihm bleibt in seinem psychologischen Baukasten kaum etwas anderes übrig, als den Gegenüber für ignorant, selbstgefällig oder einen Komplettarsch zu halten. Wenn man nur einen Hammer hat, sieht alles wie ein Nagel aus.
Es ist eine Spielart des Attributionsfehlers, der Korrespondenzverzerrung. Es liegt nahe, die Ursachen für das Desinteresse in den Persönlichkeitseigenschaften zu suchen. Anstatt zu hinterfragen, welche Variablen ihn vielleicht dazu bringen, das Problem nicht so wichtig zu finden.

Aus eigener Erfahrung

Ich verdiene seit Jahren mein Geld als Fachjournalist und Blogger im Bereich der Tobacco Harm Reduction.
Nach wissenschaftlichen Schätzungen haben E-Zigarette und Tabakerhitzer etwa 99,5% weniger Krebsrisiko als Tabakzigaretten. Das bedeutet, dass wir hunderttausende Menschenleben alleine in Deutschland retten könnten, wenn wir die Leute nur richtig informieren.

Aber so einfach ist das nicht. Denn Nichtraucher haben an dem Thema logischerweise gar kein Interesse. Und dann fallen die meisten Raucher auch noch weg. Denn die haben meist kein Interesse, so lange sie nicht Fischgräten und einen Sechserpasch husten. (etwa 80%)
Und dann kommt auch noch die Pharmaindustrie und betreibt milliardenschwere Lobbyarbeit. Die Öffentlichkeit wird desinformiert. (Das ist kein Verschwörungsmythos, ich werde dazu hier mal einen Beitrag schreiben.)

Inzwischen wurde ich sogar dafür innerhalb der Blase hart dafür angefeindet, dass ich gesagt habe, dass sie niemanden erreichen. Und mit der dutzendsten unsinnigen Petition auch nicht.

Der Punkt ist: ich kann doch nicht andere dafür verantwortlich machen, dass sie sich nicht für das Thema interessieren. Das sind doch keine Ärsche, die auf hunderttausende Menschenleben scheißen.
Ich muss versuchen sie zu erreichen und mitzunehmen. Und ich muss erklären, bis ich alles tausendmal wiederholt habe und mir vom Tippen die Finger bluten.

Ein bisschen Fickteuch

Genau das ist mir nun passiert.
Ich habe gesagt, dass ich erstmal die Ausführungen des Staatsanwalts als gegeben hinnehme. Schon verteidige ich die Polizei und nehme alles als richtig hin.
Ich habe gesagt, dass für meine Erklärungen und Überlegungen irrelevant ist, ob die Einsatzkräfte sich vor der Notwehrsituation falsch verhalten haben. Also bin ich Faschist und Nazi und verschließe die Augen.
Ich habe gesagt, dass Rassismus nicht mein Thema ist, schon bin ich selber Rassist. Ich habe gesagt, dass die Probleme der LBGTQ für mich eher marginal sind, und schon bin ich ignorant und kreise nur um mich selbst.

„Nicht mein Thema“ bedeutet weder Zustimmung noch Ablehnung. Sondern einfach gar nichts. Wie man einen Glatzkopf auch nicht nach seiner Frisur fragen kann und einem Atheisten unterstellen Logik sei seine Religion.

Ich bin nur ein Beispiel. Das Problem ist, dass es Menschen dadurch unmöglich gemacht wird, irgendetwas auch mal weniger wichtig zu finden. Was aber der psychische Normalzustand für die allermeisten Themen ist.

Es ist mir nicht möglich täglich zu schreiben und arbeiten, wobei ich mich da ja bereits engagiere. Und danach dann noch Mitglied einer Partei zu sein. Und eines Berufsverbandes. Und eines gemeinnützigen Vereins. Und mich für vertriebene Rohingya zu engagieren, bei der freiwilligen Feuerwehr zu sein, am Wochenende noch einen Christopher Street Day reinzuquetschen, auf dem ich dann damit beschäftigt bin, auf dem Handy Studien zur Geschlechterverteilung bei Angestellten in der Lebensmittelbranche zu lesen und etwas im Forum für erneuerbare Energien zu posten, während ein Kumpel aus der Gruppe für die bessere Versorgung für Ex-Soldaten anruft.

Und es ist mir auch nicht möglich bei tausenden Kommentaren vor jedem Posting zu schreiben, dass ich die Sorgen, Ängste, Nöte und Probleme des anderen ja völlig nachvollziehen kann, ihn ernstnehme, es mir wichtig sind und diese Gesellschaft sich da viel mehr drum kümmern müsste. Ich bin doch keine Selbsthilfegruppe.

Kein Mensch kann das. Und ich empfehle dringen jedem Menschen, es nicht zu versuchen.
Ein bisschen Rocker, ein bisschen egal und ein bisschen Fickteuch ist psychisch gesund.

Ein Ausweg wäre, wenn jeder Mensch mal selbstkritisch und introspektiv darüber nachdenket, wie wichtig er selber und sein Thema für die Gesellschaft ist. Aber das wird nicht passieren.

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