Dunning, Kruger, Precht und Milchmädchen

Von meiner Unfähigkeit über den Krieg zu diskutieren

Ich interessiere mich für Geschichte. Seit Kindesbeinen. Also seit vier Jahrzehnten.

Gestern habe ich eine Doku über „die Zeit von König Arthus“ gesehen. Die konnte mir nichts Neues erzählen. Es ging gar nicht um die Zeit.
Diese Dokus wollen ja eine Geschichte verkaufen. Die tatsächlichen Daten und Erkenntnisse einer 45min Doku passen meist auf ein DinA4 Blatt. Oder es sind gar keine Geschichtsdokus, sondern Dokus über Archäologie. Es ist sicher spannend, wie eine Henne das Ei gelegt hat… aber mich interessiert nur das Ei. (Und wenn ich nochmal Zahi Hawass sehe, amokiere ich.)

Solche Dokus zu rezipieren, oder sich aus den üblichen Medien zu informieren, ist die erste Stufe des Erkenntnisgewinns.
Danach kommt die Stufe, in der man lesen muss. So genannte populärwissenschaftliche Bücher. Vielleicht auch mal bei Wikipedia Quellen stöbern und Verknüpfungen herstellen. (Und entgegen der häufigen Motzereien ist Wikipedia dafür hervorragend.)

Die dritte Stufe wäre dann harte Fachliteratur. Theodor Mommsen, 800 Seiten über Keramiken Mitteleuropas in der ausgehenden Antike oder Keilschrift lernen um selber übersetzen zu können. Oder wenigstens mal Vorlesungen oder Vorträge gucken, die es teilweise sogar auf YouTube gibt.

Die vierte Stufe wäre es systematisch zu lernen, also Geschichte bzw. Archäologie zu studieren. Empirie ist im Selbststudium verdammt hartes Brot. (Mein Vorteil, dass ich durch eine härtere Schule musste.)

Ich bin bei dem Thema so zwischen Stufe zwei und drei. Irgendwo zwischen Vortrag und Nikomachischer Ethik. Dokus gucke ich gerne zum Einschlafen, erzählen können die mir nix mehr. Vieles ist schlicht Scheiß.

Von meiner Stufe aus kann ich erahnen, was noch hinter meinem Horizont kommt. Und da ist noch ganz viel. Es ist ein Hobby, ein Interesse. Ich würde mich niemals erkecken und erdreisten, einen studierten Historiker von irgendwas überzeugen zu wollen. Mit ihm konstruktiv diskutieren könnte ich allenfalls über meine Meinung. Mit dem Ziel dazuzulernen und meine Meinung zu korrigieren. Das würde ich gerne, das ist der Kern von wissenschaftlichem Denken. Meinungen korrigieren bedeutet Lernen.

Was den Krieg in der Ukraine betrifft, bin ich so zwischen Stufe drei und vier.
Einerseits gehöre ich zu den wenigen Unteroffizieren, die auch international eingesetzt waren, strategischen Einblick hatten und an einer Offiziersschule ausgebildet wurde. Andererseits ist das Thema so komplex, ich bin so lange raus und kann auch nur offene Quellen nutzen, dass ich da natürlich niemals mit einem Nachrichtendienstler oder einem Offizier aus dem Lagezentrum diskutieren könnte. (Da gäbe es aber wenig zu diskutieren.)

Das Problem ist jetzt aber, dass ganz viele Kommentatoren auf der Stufe eins sind. Und versuchen auf Stufe drei oder vier zu diskutieren. Sie gucken irgendwelche Dokus oder Nachrichten, vielleicht lesen sie dann auch mal irgendwas, und bilden sich dann eine Meinung. Oft auch durch Menschen, die selber auch nicht so viel mehr wissen und die Apelle und offene Briefe unterschreiben.
Auch das ist Teil des Dunning-Kruger-Effects: Seine Kompetenzen im Maßstab zu anderen nicht einschätzen zu können.

Hinzu kommt, dass die heutigen „Deutschen“ seit der Antike ein kriegerisches Volk waren. (Eher viele Völker. Ich würde jederzeit wieder Slawen bekämpfen. *zwinker) Das wurde uns nach 1945 ausgetrieben. Nicht nur, dass kaum ein Deutscher bereit wäre, seinen Hintern für sein Land hinzuhalten. Dass es ein Kriegshandwerk gibt, ist völlig aus dem Bewusstsein verschwunden. Es ist unerwünscht.

Wenn ein paar sich über ihren Lehrberuf unterhalten – der eine sagt Tischler, der nächste Architekt und der dritte Beamte – und ich würde sagen ich sei gelernter Krieger… da lassen die mich doch abholen. Genau das ist aber das, was den Tatsachen entspricht und in anderen Ländern gang und gäbe ist. Ich kenne mehrere ehemalige Unteroffiziere und Offiziere, die auch im Einsatz waren und teilweise 20 Jahre gedient haben. Das sind gelernte Krieger. Das ist nix zum Strunzen und nichts, was man auf Partys erzählt. Es ist schlichte Tatsache. Es ist eine Profession.

Und nun kommen Menschen, die der festen Überzeugung sind, dass man ja irgendwie mit Russland verhandeln muss. Da muss dann die Frage erlaubt sein, wie sie zu dem Schluss kommen.

Und so oft ich bei Kommentatoren nachfrage, so oft kommt dann einfach nichts mehr.
Ich würde auch zu dem Schluss kommen, dass es besser wäre mit Russland zu verhandeln… Wenn ich davon ausgehen würde, dass die Ukraine keine Chance hat zu bestehen. (Übrigens sprechen auch Soldaten da nicht von „gewinnen“. Die Ukraine muss nicht „gewinnen“. Außerdem gewinnt niemand einen Krieg. Fragt mal in Sparta nach.)
Jede Meinung dieser Art fußt scheinbar auf der Annahme Russland sei übermächtig.

Zudem scheint es die Vorstellung zu geben, man könne diesen Krieg jetzt stoppen. Die tatsächlichen Begebenheiten und Interessen werden – aus dem Wunsch heraus Menschenleben zu retten – einfach ignoriert. Viele erwarten Verhandlungen und ein Kriegsende nach wenigen Monaten. Obwohl der Scheiß gerade erst angefangen hat. Solche Kriege dauern üblicherweise mindestens fünf Jahre.

Am 24. Februar wurde gemeldet, dass Russland die ukrainische Grenze überschritten hat. In dem Moment war mir klar, dass das leicht eine halbe Millionen Menschenleben bedeutet. Ich habe es längst verarbeitet. Vielen anderen scheinbar nicht.

Aber ich komme eben nicht zu dem Schluss, dass Russland nicht zurückzudrängen ist. Und offenbar auch keiner derjenigen, die im Erkenntnisgewinn auf Stufe drei oder höher sind.
Dafür gibt es sehr viele Indikatoren. Beispielsweise vorangegangene Stellvertreterkriege wie Korea, Vietnam und Afghanistan. Die alle nicht gut für den vermeintlich überlegenen Angreifer ausgingen. Die Waffen der Russen, die quasi ausschließlich aus dem vergangenen Jahrhundert sind. Der fehlende Nachschub von Präzisionswaffen, der verpatzte „Blitz“, die Heeresstruktur, die Kosten, asymmetrische Kriegsführung… Und letztlich die zwangsläufige Überlegenheit desjenigen, der „nur“ verteidigen muss. (Angriff 1:3; Verzögerung 1:6; Häuserkampf 1:9)

Und dann kommt die Ebene des politisch geführten Wirtschaftskrieges. Die Sanktionen werden frühestens im Winter anfangen wirklich Wirkung zu zeigen. Sanktionen sind nichts für Monate, sondern für Jahre. Langfristig wird Europa sich von den russischen fossilen Energieträgern unabhängig machen. Die Absatzmärkte Asiens versprechen bei weitem nicht den Gewinn, den Europa verspricht. China war nie Russlands Freund, auch wenn sie eine gemeinsame kommunistische Vergangenheit haben. Und über 20 Prozent der russischen Bürger haben keinen Anschluss an eine Kanalisation.
Die staatlich manipulierte Stabilisierung des Rubels ist ein Pokerspiel, wer nicht mehr bietet.
Man kann es lange fortsetzen.

Und wenn ich dann einen Precht bei Lanz sehe, der unwidersprochen in einer Milchmädchenrechnung vorrechnet, dass wir ja gar nicht so viele Waffen liefern können, denke ich an die vier Phasen.
Ein sicherlich hochintelligenter Mensch. Der aber nicht verstanden hat, dass er den typischen theoretisierenden Intellektuellen spielt. Weil er aus pauschaler Ablehnung Krieg nie als Handwerk verstanden hat.
Die Architekten, die in ihrer Küche hinterm gerufenen Fliesenleger stehen und ihm seinen Job erklären, während sie selber nicht einmal einen Nagel in die Wand schlagen können, ohne den Hammer zu verbiegen. Es tut mir leid, ich kann nicht anders, genau da ist Precht nun in meinem Hirn verankert.
Ein Theoretiker, der – aufgewachsen in einem 68er-Haushalt – die Menschenleben so hoch bewertet, die ich am 25. Februar schon verarbeitet hatte.

Und dann verzeihe ich mir selber, dass ich nicht mehr bereit bin mit jedem Kommentator auf Facebook zu diskutieren. Zu oft kam nur heiße Luft, wenn ich nachgefragt habe, wie derjenige zu seinen Schlüssen kommt.
Ganz viele, auch in den Medien, sagen Russland, aber denken an Sowjetunion. Dieser Krieg wird sie eines Besseren belehren.

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