Die Kränkung der Wohlstandsverwahrlosung

Willkommen in der anderen Realität

Sigmund Freud lag bei vielem falsch. Die Psychoanalyse gilt in weiten Teilen als überholt.
Aber Freud war auch eine Art Philosoph, ein Kulturtheoretiker. Er hat viele Gedanken aufgeworfen, auf denen bis heute herum gedacht wird.

So dachte Freud auch über das nach, was er „narzisstische Kränkung“ nannte. Kränkungen, die das Weltbild und Wertesystem eines Menschen angreifen.

1917 formulierte er die drei Kränkungen der Menschheit:
Die Theorie des Kopernikus, dass die Erde nicht im Mittelpunkt des Universums steht. Die Erklärung der Evolution, die den Menschen nur als eine weitere Entwicklung der Spezies sieht. Und die Theorie des Unterbewussten, die zeigt, dass der Mensch nicht Herr im eigenen Haus ist.

Seit 1945, spätestens seit Ende des Kalten Krieges, sind wir in dem Urvertrauen aufgewachsen, dass alle Konflikte durch Verhandlungen zu lösen sind. Selbst Kindern wurde beigebracht, dass Reden immer besser als Gewalt ist und der Kompromiss die höchste Form der Übereinkunft.

Zudem sind wir in einem materiellen Überfluss großgeworden. Selbst der Ärmste bei uns wäre in vielen Ländern der Welt ein reicher Mensch.
Selbstverständlich haben wir immer wieder einmal mitbekommen, dass es nicht überall auf der Welt so läuft. Wir haben von Kindersoldaten in Afrika gehört, die die Herzen ihrer Gegner essen. Und vom Hunger der Sahelzone. Wir haben von hunderttausenden vertriebenen Rohingya gehört und von noch mehr internierten Uiguren. Wissen aber nicht, wer das überhaupt ist.
Wir haben davon gehört, dass der kolumbische Staat auf Kokain läuft, Brasilien Regenwald abholzt und Kinder in indischen Sweat Shops für ein paar Cent am Tag unsere Turnschuhe und T-Shirts nähen.

Aber in unserem wohlig warmen Wohnzimmer haben wir vor unserem Smart-TV vergessen, wie viel Arbeit es gekostet hat, dort hin zu kommen, wo wir sind. Oder beim Mango-Lassi bei unserem Lieblings-Inder im angesagten Kiez. Wie viel Fingerspitzengefühl, wieviel Hilfe und wieviel Ausbeutung anderer dafür nötig waren.

Das waren halt die anderen. Die nur langsam mal auf den Stand dieses Jahrhunderts kommen müssen. Auf unser Niveau. Sie sind es ja irgendwie auch selbst schuld.
Keiner wollte hören oder aussprechen, dass die Angleichung des Lebensstandards in Europa auch bedeutet, dass unserer gesenkt werden muss.

Wir hatten die Zeit um über Gendern und Seenotrettung zu debattieren, über Kopftücher in Schulen, Z-Promis im Dschungel und Zigeunerschnitzel. Über Umweltverschmutzung durch Kreuzfahrtschiffe.
Und währenddessen haben wir es uns erlaubt, nicht mehr für unser Land kämpfen zu wollen, Soldaten als Söldner zu verstehen und uns darüber zu beklagen, wenn Wehrpflichtige ein Jahr später mit dem Studium beginnen können.
Wir haben Politiker als „die da oben“ begriffen, während noch nie so wenige Menschen Mitglied einer Partei waren, Vereinen die Gemeinnützigkeit aberkannt wird und Sanitäter angepöbelt werden.
Der Staat als Dienstleister, für den man nichts tun muss. Als Administration einer Gesellschaft, die losgelöst von ihm verstanden wird.

Der Einmarsch Russlands zum Zweck der territorialen Ausdehnung hat uns auf einen Schlag um Jahrzehnte zurückgeworfen. Nicht die Welt. Die war die ganze Zeit so. Nur uns.
Wir haben es gar nicht mehr für möglich gehalten, dass ein Staat so etwas tut. Und wenn, dann nur irgendwelche Kleinstaaten weit weg.
Wir wurden geweckt vom Geräusch fliegender Helikopter. Völlig überfordert von der Ahnung, dass Gewaltlosigkeit nur dann eine Lösung sein kann, wenn alle darauf verzichten.
Si vis pacem para bellum wurde wieder sagbar.

Und nun sehen wir, wie Menschen damit ganz unterschiedlich umgehen.
Die einen kritisieren die Sanktionen gegen einen diktatorischen Aggressor und entscheiden sich für eine egoistische und egozentrische Konfliktlösungsstrategie. Weil ihr eigener Wohlstand bedroht wird.
Die nächsten versuchen es sich dadurch begreiflich zu machen, dass Putin geisteskrank sein muss. Und ignorieren, was prognostiziert war und was die russische Kultur nahelegt.
Wieder andere fordern Verhandlungen. Doch danach gefragt, was sie denn anbieten wollen, wird das Schweigen laut. Verantwortungsdiffusion ist schwer zu Ende zu diskutieren.
Und wieder andere geben sich einem Hass hin, der nachdenklich macht, wo dieser Hass in Tschetschenien und Georgien war. Und wo überhaupt Transnistrien liegt.

Wir tun alles, um uns nicht einzugestehen, dass wir den Schlaf der naiven Reichen geschlafen und von Konsum geträumt haben.

Ich habe das Gefühl, Sigmund Freud würde das sicher die europäische Kränkung nennen.
Die Kränkung der Wohlstandsverwahrlosung.

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