Eine kurze Geschichte vom ukrainischen Nationalismus

Was ist dran, an der Entnazifizierung?

Es waren nicht alle so

Aus russischer Sicht waren das natürlich Kollaborateure der Nationalsozialisten. Und damit automatisch Nazis. Dass sie letztendlich selber im KZ gelandet sind, wenn auch unter annehmbareren Bedingungen, wird meist nicht erwähnt.
An dem Antisemitismus und den Gräueltaten ändert das natürlich wenig und entschuldigt gar nichts. Doch es ist nicht unerheblich, das genau so zu verstehen.

Der häufig überdehnte Satz „es waren nicht alle so“ ist in diesem Fall völlig zutreffend. Denn es kämpften ja auch Ukrainer gegen Deutschland. Und die Ukrainische Aufständischenarmee kämpfte bis 1947 nicht nur gegen die seit 1944 bestehende sowjetische Besatzung, sondern auch noch gegen die deutsche Besatzung.

Es ist völlig richtig, dass Bandera vor allem im Westen der Ukraine bis heute teilweise als Nationalheld verehrt wird. Doch ob er tatsächlich für seinen Rechtsextremismus verehrt wird, oder für den Kampf für eine unabhängige Ukraine, könnten nur anonymisierte Umfragen wirklich klären.
Die Einordnung als Nationalsozialisten muss man schlicht ablehnen.

Die Ukraine saß immer zwischen den Stühlen.
Und will man die Situation vernünftig beurteilen, so ist das sicher die Perspektive, die man einnehmen muss.

Das Regiment Asow

Aus russischer Perspektive ist nichts naheliegender, als die Ukraine mit Nazis in einen Topf zu werfen. Zumal Demokratien als Schwach angesehen werden, demokratische Entscheidungen werden negiert.

So wird beispielsweise bis heute das Regiment Asow (benannt nach der Region, nicht nach einem Menschen) als Beispiel für den angeblichen Nationalsozialismus der Ukraine herangezogen.
Dieses Regiment wurde jedoch erst 2014 gegründet, um gegen die pro-russischen Separatisten und die immer massiver eingreifenden Russen zu kämpfen.
Selbstverständlich fanden sich dort dann viele Rechtsextremisten zusammen. Zu erkennen an dem Regimentsabzeichen, der Wolfsangel.

Freiwillige des Regiment Asow
mit Hitlergruß und Hakenkreuz
(vor 2018) CC BY-SA 4.0

Bis 2017 wurden dem Regiment viele Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Inzwischen ist die Einheit jedoch in die Nationalgarde des Innenministeriums eingegliedert und wurde weitestgehend „professionalisiert und entpolitisiert“. Sie gilt heute als Elite-Einheit.
Seitdem werden keine herausragenden Menschenrechtsverletzungen durch das Regiment Asow mehr gemeldet. Nach fünf Jahren dürften auch nur wenige der ursprünglichen Soldaten noch leben und dienen.

Die Bedeutung der Einheit wird von der russischen Propaganda bewusst überhöht. Da den angeblichen ukrainischen Nationalsozialismus beweisen soll.
Vermutlich hat Russland auch deshalb eingeschlossene Teile der Einheit im Stahlwerk Mariupol so vehement bekämpft. Man wollte dies als Propagandasieg ausschlachten. Ukrainische Kriegsgefangene wurden gefoltert und misshandelt, bei einem ungeklärten Feuer in einem Kriegsgefangenenlager bei Donezk sind 50 Kriegsgefangene gestorben.

Das Nazi-Regime in Kiew

Immer wieder aufgewärmt wird auch das Narrativ des Nazi-Regimes in Kiew. Was schlicht absurd ist.
Ministerpräsident Denys Schmyhal ist auch jüdischer Abstammung, Präsident Wolodymyr Selenskyj sogar russisch-jüdischer.

Während der Wirren der ukrainischen Revolution Euromaidan 2014 wurde eine Übergangsregierung gebildet, um das Parlament komplett neu aufzustellen. Verfassungsänderungen des bisherigen ultrakorrupten und russlandfreundlichen Präsidenten Janukowytsch sollten rückgängig gemacht werden.
Als dieser Stürzte, begannen die massiven Interventionen Russlands in der Ukraine: die Separatisten im Osten wurden unterstützt und die Krim wurde annektiert.

In dieser Übergangsregierung war auch die „Allukrainische Vereinigung Swoboda“ und ihr Vorsitzender Oleh Tjahnybok vertreten. Diese Partei verehrt den erwähnten Bandera und strebt eine „ethnisch einheitliche“ Ukraine an. Unterm Strich ist sie aber sicher nicht besser oder schlechter zu bewerten, als andere rechtsextremistische Parteien Europas.

Auch das wird immer wieder als vermeintlicher Beweis aufgeführt, die Ukraine würde durch ein Regime regiert und müsse „entnazifiziert“ werden.
Wie schön, dass der US-Senator McCain sich 2013 auch mit Tjahnybok traf und den Demonstranten Unterstützung zusagte. Und der EU-Botschafter bezeichnete die Swoboda auch noch als „gleichwertigen Partner für Gespräche mit der EU“. Ein Geschenk für die Spin Doctors und Propagandisten in Moskau und St. Petersburg.

Weggelassen wird fast immer, dass Tjahnybok bei der Präsidentschaftswahl im Mai 2014 nur 1,4% der Stimmen bekam. Bei der Parlamentswahl bekam die Swoboda keine 5% und konnte nur über sechs Direktmandate ins Parlament. Bei der Parlamentswahl 2019 schloss sie ein Bündnis aus mehreren nationalistischen Parteien und bekam trotzdem nur 2,4%.
Derzeit hat die Swoboda 15.000 Mitglieder und genau einen von 450 Parlamentssitzen.

Die derzeit mit weitem Abstand stärkste Partei ist die Sluha narodu, eine Art europafreundlicher FDP.
In der russischen Duma sitzen übrigens 334 von 450 Abgeordnete der Jedinaja Rossija (Einiges Russland), dem russischen Gegenstück zur AfD.

Nur wer eine Nation hat, kann Nationalismus ablehnen

Den ukrainischen Nationalismus darf man nicht nach deutschen Maßstäben aus einer deutschen Perspektive beurteilen. Denn sonst landet man sehr schnell bei den Narrativen der russischen Propaganda. Was genau damit ja erreicht werden soll.

Es gibt zwei Faktoren, die das Ganze in ein sicherlich zutreffenderes Licht rücken.

Zum ersten ist der Nationalismus, der vor dem geschichtlichen Hintergrund beurteilt werden muss.
Unbestreitbar gab es auch rechtsextremistische Bestrebungen innerhalb der Ukraine. Doch das kann man nur schwer auf die ganze Ukraine übertragen.

Es ist unzutreffend, die nationalistischen Bemühungen innerhalb der Ukraine mit dem europäischen Faschismus des vergangenen Jahrhunderts gleichzusetzen. Völlig absurd ist die Gleichsetzung mit dem deutschen Nationalsozialismus.

Wenn eine Nation, ein Volk, eine Ethnie eine eigene Identität sucht bzw. versucht zu einem souveränen Staat zu formen, sind nationalistische Bestrebungen nicht nur zu erwarten. Es geht gar nicht ohne sie.
Nationalismus kann nur der ablehnen, der bereits in einem gesicherten und souveränen Staat lebt.

Zum zweiten hat es nach der korrupten und russlandfreundlichen Führung durch Janukowytsch einen Umbruch gegeben. Die Ukraine nach 2014 ist nicht mehr die Ukraine von davor.
Inzwischen wurden Präsident und Parlament zweimal gewählt. Und die Rechtsradikalen spielen keine irgendwie relevante Rolle.

Gerade Deutsche und Österreicher sollten mit der Aufarbeitung der Geschichte anderer weit gnädiger sein. Und die Dinge differenzierter betrachten.
Dann fällt man auch nicht so schnell auf die Propaganda einer de facto Diktatur herein, die in vielen Teilen genau das erfüllt, was sie anderen vorwirft.

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