Eine kurze Geschichte vom Deutschsein

Exkurs in Identitätssuche

Später kam dann Karl der Große. Der residierte am liebsten in Aachen (ca. 800). Trotzdem wird er sich auch nicht als Deutscher verstanden haben. Und darum macht die Diskussion darum, ob er nun Deutscher oder Franzose war, gar keinen Sinn. Sein Reich zerfiel schon in der nächsten Generation wieder.
Die meiste Zeit verbrachte er damit, Krieg gegen die Sachsen zu führen. Die mit den heutigen Sachsen aber nichts zu tun hatten. Die historischen Sachsen waren Heiden geblieben und lebten im heutigen Niedersachsen.

Der Grund dafür, die östlichen Gebiete hier bisher außen vor zu lassen ist, dass dort schlicht nichts los war. Historisch blitzen irgendwann die Thüringer auf, aber das war es dann. In das heutige Sachsen wanderten slawische Stämme ein, die im Laufe der Zeit bis Berlin kamen. Diesmal wanderten wirklich die Menschen, nicht nur die Kultur. Da war viel Land frei.

Zum ersten Mal kann man so etwas wie Deutschsein bei der Schlacht auf dem Lechfeld unter Otto dem Großen fassen. (955) Die Ungarn – Magyaren und Nachfahren der Hunnen – waren ständig in die deutschen Länder eingefallen. Otto war zu dem Zeitpunkt kein Kaiser, sondern König des Ostfrankenreiches (etwa bis zum Rhein) und Herzog von Sachsen. Er vereinte Franken, Sachsen, Baiern und Böhmen und haute den Ungarn auf die Mütze.
Und das war es, was der AfD-Gründer Alexander Gauland meinte, als er vom Vogelschiss auf tausendjähriger deutscher Geschichte palaverte. Abgeguckt von den Nazis.

Dieses damalige „deutsch“ hatte eine ganz andere Bedeutung.
„Deutsch“ stammt vom indogermanischen „teuta“ ab, was so viel wie „Volk“ oder „Leute“ bedeutet. Aber nicht im Sinne einer Herkunft. Sondern eher im Sinne von „dem Volk zugehörig“. In Abgrenzung zu den Westfranken jenseits des Rheins, die romanisch geblieben waren, wurde der Begriff des „þeudisk“ (gesprochen wie das englische th) verwendet. Der wandelte sich später über „diutisc“ und „diutisch“ zu „deutsch“.

Das waren die, die kein Latein sprachen. Das Fußvolk. Wigbod, ein Kaplan Karls des Großen, schrieb schon 786 dem Papst, dass Beschlüsse des Konzils „auf Latein und in der Volkssprache“ („tam latine quam theodisce“) verkündet werden. Ein Mönch hätte Bauern als „diutisc“ bezeichnet, auch wenn sie aus dem heutigen Belgien, Frankreich oder Norditalien stammen.

Viele „deutsche“ Völker dieser Zeit kennen wir noch heute. Sie spiegeln sich nicht nur wider in den Bundesländern und Regionen (Sueben = Schwaben, Saxen = Niedersachsen, Hamburg). Sondern auch in den Bezeichnungen, die andere Sprachen für „deutsch“ haben. Bei den damals römisch besetzten Engländern sind es die Germanen geblieben. Die Italiener, die später von „Deutschen“ regiert wurden, sind es die „tedesci“ (Althochdeutsch = diutisc). Auch Norweger und Schweden sind beim Tyskland geblieben. Die Franzosen und Spanier, die mit den Alemannen zu tun hatten, sprechen bis heute von Alemagne und Alemania. Finnen und Esten hatten über die Ostsee am meisten mit den Sachsen zu tun, deshalb heißen Deutsche dort bis heute Saksa. Die einwandernden Slawen konnten die „Germanen“ nicht verstehen. Deshalb heißen sie in Polen und der Tschechei bis heute Niemcy und Německo, was sich von „stumm“ herleitet. In der deutschsprachigen Schweiz wurden Deutsche häufig als Schwaben bezeichnet. Die lateinischen Teutonen haben sich ausgewachsen.

Über die kommenden Jahrhunderte waren die deutschen Lande ein Flickenteppich. Bis Böhmen und Sizilien. Es gab dutzende Sprachen. Ein Söldner des Dreißigjährigen Krieges hätte im 17. Jahrhundert einem Schweden nie gesagt, er sei Deutscher. Sondern Böhme, Pfälzer, Kölner oder Hesse.
Erst durch die Besetzung Napoleons (1805) kam die Idee eines geeinigten Deutschlands auf. Während Spanien, Frankreich oder England längst Staaten und feste Herkunftsbezeichnungen waren.

Was eignet sich besser, als ein gemeinsamer Feind? So wuchs das Bild vom Deutschen, der von den Germanen abstammt. Um sich vom Erzfeind, dem gallischen, keltischen Franzosen abzugrenzen. Dabei waren viele Deutsche so germanisch wie ein Franzose, die Baiern und Leipziger nie Germanen gewesen und ein Aachener so keltisch wie ein Pariser. Schwarz-Weiß-Denken ist einfacher.
Und dieses vereinfachte Bild wird bis heute in den Schulen gelehrt. Wider besseres Wissen. Und da wenige später im Leben viel Interesse aufbringen, hat sich bis heute das Bild des nationalistischen Deutschseins verfestigt.

Fleißig schwenken Rechtsextremisten die Reichsflagge auf Corona-Demos. Sachsen lassen sich Runen tätowieren, mit denen sie historisch so viel gemein haben wie mit Hieroglyphen. Bayern halten sich für erz-germanisch, obwohl sie zum frühsten Kern des keltischen Raums gehörten und nie germanisch waren. (Erst durch die Eroberung der Franken, die man zwar nicht mehr als germanisch bezeichnete, die aber ihren Namen hinterlassen haben.) Und Kölner haben martialische Profilbilder mit Wikingern, obwohl die Wikinger Köln geplündert und gebrandschatzt haben. Selbst italienische Fußballfans entblöden sich nicht, Flaggen mit Thor zu schwenken, anstatt mit Jupiter. Und irgendwo in Sachsen steht eine desorientierte Demonstrantin und philosophiert, dass unterm Kaiser alles besser und freier war. Damals, als Deutsche verhungerten und ein Mensch ohne Uniform ein Mensch zweiter Klasse war.

Deutschland ist eine Projektionsfläche, auf die jeder malt, was ihm gerade in den Kram passt. Damit er sich identifizieren kann. Wir brauchen das einfach, um zu wissen, wer wir sind. Manche zumindest. Und klappts nicht mit der Erektion, ist man stolz auf die Nation.

Für mich ist Deutschland die Republik der „diutiscen“ Landen. Schon immer ein Vielvölkerstaat gewesen. Immer im Wandel, und doch so voll mit Tradition. Und ich finde es wundervoll.
Das norddeutsche Platt zu hören und das angelsächsische Englisch zu erkennen. Den rheinischen Akzent mit seinen französischen Anleihen und seinem Pragmatismus. Den von den Römern eingeschleppten Wein der Mosel. Zu wissen, dass wenn einer eine Levi Strauss Jeans trägt, dass die eigentlich bayrisch sind. Und wenn jemand „alter Schwede“ sagt zu wissen, dass es aus dem 17. Jahrhundert stammt.

Wozu muss man sich seine Identität, sein Deutschsein so zurechtbiegen, wenn man aus einer so vielfältigen, wundervollen Kultur kommt? Oder eben aus ganz vielen.
Wir müssen das Deutschsein nicht vor uns hertragen. Wir haben es in uns. Wir merken es nur nicht mehr. Wir haben es vergessen.

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